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Silver Surfer im NetzSpielwiese moderner Hippies

Lange haben sich Senioren nicht ins Netz getraut, heute ist mehr als die Hälfte von ihnen online. Und Surfen hält geistig fit. Die 68er Ikone Rainer Langhans ist so ein "Silver Surfer".

Für Rainer Langhans ist das Internet "der wichtigste Ort." Bild: screenshot facebook.de

Freundschaften lehnt Heidrun Kämpf lieber ab. Virtuell zumindest. "Dieses Facebook", sagt sie, "das gefällt mir gar nicht." Sie schüttelt leicht den Kopf und zupft ein Haar von ihrem Halstuch. "Da werden einem Freundschaften angeboten, die man überhaupt nicht will." Da war zum Beispiel diese Frau, mit der hatte sie nur einmal gesprochen, dann kam gleich eine Anfrage per Facebook: Als Freundin hinzufügen?

Das ging Heidrun Kämpf dann doch zu schnell. Drei Freunde hat sie in der Online-Community, darunter ihre Cousine und deren Sohn, das reicht. Nicht jeden, den man kennt, muss man auch zum Freund haben. Deswegen sind soziale Netzwerke im Internet nicht so ihr Ding, sagt Kämpf, "das expandiert so". Mit ihren 65 Jahren hält sie sich lieber an klassische E-Mails.

Internetnutzer wie Heidi Kämpf nennt man Silver Surfer - in Anspielung auf ihre vermeintlich silbergrauen Haare. Sie sind über 50 und das Web ist in den letzten Jahren immer attraktiver für sie geworden. Fast die Hälfte der über 50-Jährigen nutzt heute laut dem "(N)Onliner-Atlas" der Initiative D21 täglich das Internet. "Die Angebote für einen Internetzugang sind immer angepasster und für Senioren zugänglicher", erklärt Daniel Ott, Pressesprecher der Initiative D21, diese Entwicklung. Musste man sich früher noch umständlich über Telefon einwählen, kann man sich heute innerhalb von Minuten einen Zugang zum Internet einrichten.

Die Initiative D21, ein Zusammenschluss von Politik und Wirtschaft für die Informationsgesellschaft, stellt seit 2001 jährlich im "(N)Onliner Atlas" Untersuchungen dazu vor, wer in Deutschland das Internet nutzt und wer nicht. Zum Vergleich: Vor acht Jahren verweigerten sich 60 Prozent der über 50-Jährigen noch dem Internet. Bei den über 70-Jährigen waren es sogar 90 Prozent. Dass sich heute so viele Senioren durchs Netz klicken, erklärt Ott auch durch die vermehrte Unterstützung aus dem familiären Umfeld: "Heute binden die Enkel gerne ihre Großeltern mit ein, wenn sie im Internet surfen."

Als die Welt Mitte der 90er ans Netz ging, arbeitete Heidrun Kämpf als Sekretärin an der Technischen Universität Berlin. Statt an der Schreibmaschine tippte sie schon am Rechner. Eines Tages kam der Administrator, setzte sich neben Kämpf und ihre Kollegin und dirigierte die beiden durch das World Wide Web. Mit der Übung kam schnell die Routine, heute nennt Heidrun Kämpf das Internet "ein vertrautes Gebiet", seit 2004 hat sie auch zu Hause einen Anschluss. Damit ist sie eine der wenigen Frauen in ihrer Altersklasse, denn die Silver Surfer sind mehrheitlich männlich.

Rainer Langhans ist so einer, dessen liebster Spielplatz heute das Internet ist. Bekannt durch seine Liaison mit 68er-Ikone Uschi Obermeier und sein wildes Leben in der Kommune 1, hat der heute 69-Jährige sein Sozialleben größtenteils ins Web verlegt, gleichzeitig sieht er darin auch die Lösung für die Tücken des Alterns: "In dem Moment, wo man den Körper nicht mehr so stark benutzen kann, weil wir alle älter werden, wirst du dich auf das Virtuelle verlegen müssen", sagt Langhans.

Seit Ende der 70er wohnt er in München, in einer Wohnung in Schwabing. Doch eigentlich ist seine Umgebung nur Nebensache, sagt er. "Der wichtigste Ort für mich ist tatsächlich das Netz. Das ist der Ort, wo ich gerne bin." Bis zu sieben Stunden täglich chattet Langhans, guckt Filmchen auf Youtube, verschickt Links und hat auch eigene Accounts bei Twitter und Facebook. Der Kontakt zu seinen fünf Frauen, mit denen er seit mehr als 35 Jahren in einer Beziehung lebt, ist heute vorwiegend virtuell. "Wir leben ja nicht in einer Wohnung", erklärt Langhans, "tagsüber treffen wir uns noch körperlich, wenn wir wollen. Abends und nachts begegnen wir uns im Netz."

Körperliche Nähe fehlt ihm dabei nicht, die größte Intimität findet seiner Meinung nach heute sowieso im Web statt. Die große Hippiekommune nennt er das Internet. Der moderne Hippie ist für ihn auf jeden Fall einer mit dem Prädikat 2.0: "Für mich ist der eigentliche Hippie im Netz, denn was ist das Hippietum gewesen: ein Einsteigen in ein besseres Leben. Und wo, wenn nicht im Netz, kann man kreativ ohne diese geistige Enge des bürgerlichen Lebens leben?"

Das Internet macht den Geist aber nicht nur frei, sondern hält ihn auch gesund. Diverse Studien attestieren dem Web eine positive Wirkung auf ältere User. Aus dem amerikanischen Phoenix Center stammt etwa das Forschungsergebnis, Surfen im Internet könne bei Senioren das Risiko einer Depression um 20 Prozent verringern. Vor allem für ältere Menschen, so die Forscher, sei es auf Grund der eingeschränkten Mobilität oft schwierig, den Kontakt zu Freunden und Familie aufrechtzuerhalten. Der Zugang zum Internet verhelfe Senioren zu sozialen Kontakten und sozialer Unterstützung, wenn der persönliche Kontakt zunehmend schwieriger wird.

Dass allein die Suche im Internet schon das Gehirn fit halten kann, belegt eine weitere Studie: Das American Journal of Geriatric Psychiatrie beobachtete Menschen zwischen 55 und 76 Jahren beim Surfen im Web. Dabei stellte sich heraus, dass die Senioren, die bisher nicht oft mit dem Internet in Berührung gekommen waren, beim Klicken zunächst dieselben Hirnzentren aktivierten wie beim Lesen. Erstaunlicher aber war das Ergebnis bei den Usern, die sich schon lange durch die Websites klickten. Zusätzlich wurden bei ihnen noch Areale im Gehirn beansprucht, denen das Fällen von Entscheidungen und Abwägen zugeordnet werden.

Manchmal hat Heidrun Kämpf schon Angst, internetsüchtig zu sein. Morgens und abends surft sie je eine halbe Stunde, manchmal auch länger. Nach dem Frühstück überfliegt sie die News im Netz, aber richtige Nachrichten liest sie dann doch lieber in der Zeitung. Praktisch wird das Internet, wenn sie eine Adresse sucht und diese im Telefonbuch nicht auf Anhieb finden kann. "Für Smalltalk ganz nett" findet Heidrun Kämpf jene Seiten, auf denen Kochrezepte privat eingestellt und beurteilt werden.

Am liebsten schreibt Heidrun Kämpf aber selbst. Fünf E-Mails pro Tag. Mindestens. Freunde, Familie, Bekannte - wer Heidrun Kämpf mailt, muss nicht lange auf Rückmeldung warten: "Ich antworte eigentlich immer ziemlich sofort", sagt sie. Und immer mindestens eine halbe Seite. Und nein, ein Date hatte sie noch mit niemandem, den sie im Internet kennengelernt hat. Nachdrücklich schüttelt sie den Kopf. Dahinter könne sich doch jeder verbergen. Das sei ihr dann doch zu unsicher.

Werner und Marianne Paulsen, 61 und 57 Jahre alt, sind dieses Risiko trotzdem eingegangen. Innerhalb von drei Jahren hatte Marianne Ehemann, Vater und Mutter verloren. Freunde, die ihr anfangs Trost und Beistand zugesichert hatten, wandten sich mehr und mehr von ihr ab, um ihren eigenen Leben nachzugehen. Ein fünftes Rad wollte sie nicht sein, nicht für ihren Neffen, nicht für ihre Freunde. "Deswegen bin ich ins Netz gegangen", erzählt Marianne Paulsen, "da kann man sich seine Freunde aussuchen."

In einem Chatroom des Internet-Portals 50+, einem Forum für Partnersuche, Freundschaft und Freizeitgestaltung für Menschen über 50, lernt sie Werner Paulsen kennen. Anfänglichen E-Mails folgen Telefonate, bis sie sich nach drei Monaten zum ersten Mal gegenüberstehen. Von Hamburg aus fährt Werner zu ihr aufs mecklenburgische Land. Als er aus dem Auto steigt und seine langen grauen Haare im Wind flattern, erschrickt Marianne Paulsen erst einmal. "Oh Gott, was ist das für ein wilder Typ, hab ich mir gedacht", blickt sie zurück und lacht.

Irgendwie hat es dann doch gefunkt zwischen den beiden. "Weihnachten ist er bei mir geblieben und nicht mehr gegangen", sagt Marianne Paulsen. Ihr Umfeld war zunächst schockiert, als sie von ihrer neuen Internetbekanntschaft erzählt hat. Doch das war Marianne egal: "Ich hab mir dann gesagt: Jetzt willst du auch mal leben."

Seit Mai 2008 sind Werner und Marianne verheiratet. Als das Pärchen ihm seine Geschichte erzählt, muss der Standesbeamte erst einmal schmunzeln. In seiner Rede zur Trauung sagt er dann: "Schön, dass man im Internet sogar jemanden zum Heiraten findet."

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