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Sigmaringen als französische HauptstadtEin Regime implodiert

Nach der Landung der Alliierten in Frankreich war das Vichy-Regime erledigt. Auf Betreiben Hitlers musste es im Herbst 1944 nach Sigmaringen ziehen.

Sonnenaufgang überm Schloss Sigmaringen: Die Ortschaft liegt im Schatten Foto: Felix Kästle/dpa

F ür Städte nutzt keiner den Ausdruck normschön. Dabei passt er auf Sigmaringen so gut: Alles propper, geraniengeschmückter Figurenbrunnen vor dem reinlich verputzten Neorokokorathaus. Und über allem thront das besonders mittelalterliche Schloss aus dem 18.–19. Jahrhundert.

Erst Anfang des Jahres hat die SWR-Landesschau die Touri-Attraktion noch einmal eine Woche lang in kitschigen Bildern abgefeiert, ganz ohne zu erwähnen, was hier vor 80 Jahren los war, seit September 1944. Aber mit dem welthistorischen Moment dieses Bauwerks ist auch schwer umzugehen.

Nicht, weil es ein dunkles Kapitel wäre, bestätigt auch Clemens Klünemann, Prof an der PH Ludwigsburg, der zum Thema publiziert hat: „Man denkt erst, es ist etwas Heimatgeschichtliches, aber dann tun sich immer mehr Facetten auf, wie in einem Kaleidoskop“.

In dem dominieren Blau Weiß und auch Rot in seltsam schriller Ausprägung: In Sigmaringen nämlich hat die Vichy-Regierung ihren Untergang vollendet, vom 7. September 1944 an bis zum 21. April 1945.

Besetzer ohne Rachedurst

Am 22. marschieren dann Kampftruppen der Ersten französische Armee unter General Joseph de Lattre ein. Denkbar wäre gewesen, dass dieses Zwischenspiel die französischen Befreiungstruppen motiviert hätte, ihren Zorn auszuleben. Aber so war es nicht.

„Das war hier nicht, wie in Freudenstadt“, sagt Autorin und Journalistin Gabriele Loges, die viele Zeitzeugen-Interviews geführt hat. Seit Jahren macht sie zusammen mit Klünemann im Projekt „Erinnerungsort Sigmaringen“ auf die zahlreichen Schauplätze der deutsch-französischen Geschichte in der Stadt aufmerksam, online, aber auch analog, per Flyer und durch einen Parcours.

Endstation des Vichy-Regimes: Philippe Pétains Büro im Schloss Sigmaringen 1945 Foto: bpk

Keine 100 Kilometer nordwestlich, in Freudenstadt im Schwarzwald, das ist lange schon bekannt, hatten die Befreier aus Rache fürs Massaker von Oradour Häuser angezündet, Frauen vergewaltigt, 600 Frauen, schreibt Claire Miot in ihrer Untersuchung zum Vormarsch der Ersten Armee. Das sind 200 mehr, als in Konstanz, das viermal so groß ist.

Für Sigmaringen gibt es keine Zahl. „Ich habe auch keine Betroffene kennen gelernt“, sagt Loges. Dass es auch dort zu sexueller Gewalt gekommen ist, hält sie dennoch für wahrscheinlich. Ein kürzlich im Schloss aufgeführtes Theaterstück von Gerd Zahner und Johannes Stürner erinnert daran, etwas pauschal vielleicht.

Eher lose nebeneinandergestellt hatte es Befreiungs-Grauen und Vichy-Groteske. Die beschäftigt die Fantasien schon lange. Mindestens zwei französische Romane – der eine etwas tranfunzelig, der andere widerlich – thematisieren sie.

Erforscht wird in Frankreich seit den 1980ern, wie genau das politisch tote Personal des Kollaborationsregimes von Maréchal Philippe Pétain auf Adolf Hitlers Geheiß im Schloss herumgespukt hat. In Summe: eher verängstigt, als furchteinflößend.

Staaten brauchen Rituale, um sich selbst zu behaupten. Das gilt erst recht für Pseudo-Staaten. Zwar erreicht der Konvoi mit Pétain, dem greisen Sieger von Verdun, Sigmaringen bereits am 8. September.

Aber zur Hauptstadt oder sogar zum verbliebenen Staatsgebiet des Frankreichs der Kollaboration avanciert das Schloss den internen Schriftwechseln zufolge so richtig erst durch einen Staatsakt am 1. Oktober, eine Cérémonie des Couleurs. Mit historischen Wetterangaben ist das immer so eine Sache, und Jean-Paul Cointet von der Sorbonne hat sich vorsichtshalber nicht festgelegt.

Aber laut Henry Rousso, Koryphäe unter Frankreichs Vichy-Historikern, hat an jenem Sonntag eine bleiche Sonne die Schwäbische Alb beschienen. In ihrem Licht, auf der Rampe, die zum Schlossportal führt, marschiert, als Ablösung der Wehrmachtwachen, um 11.15 Uhr ein klägliches Trüppchen französischer Milizsoldaten auf. Es dient als Nationalgarde. Gekleidet ist es in schwarze, recht uneinheitliche Uniformen.

Es gibt 1945 ein Rachebedürfnis in Frankreich: Die Forderung, Philippe Pétain an den Galgen zu bringen, bleibt aber unerfüllt Foto: wikimedia/commons

Die Köpfe sind mit Barrett, Helm oder zur Not einer Wollmütze bedeckt. „Teils handelt es sich um Greise, teils um Jugendliche“ so Rousso in seinem Sigmaringen-Buch. Es fällt ihnen schwer, in Reih und Glied zu stehen. Ein Trommelwirbel. Langsam steigt die Trikolore am Fahnenmast empor, Bleu, Blanc, Rouge.

Und dann wird Fernand de Brinon eine staatstragende Rede halten.

Seine Kokollaborateuren und der deutsche Außenminister Joachim von Ribbetrop haben ihn zum Anführer der Regierungskommission gemacht. In seiner ersten Ansprache als Präsident betont er nun die enge Verbindung zu Maréchal Pétain. Das Oberhaupt des Vichy-Régimes bleibe „der einzige legitime Chef des franösischen Staates“ betont er, weil ja seit dem 26. August ein Konkurrent, dessen Name hier nun wirklich nicht genannt werden darf, übern Champs Élysée paradiert.

Das Schloss des Verrats

De Brinon tut so, als hätte der Maréchal persönlich mit ihm gesprochen. Dabei hatte er weder eine Audienz bekommen noch wurde auf seine durch Boten übermittelten Briefe reagiert: Der alte Herr sitzt im siebten Stock des Turms und trotzt.

Das geht schon seit Ende August so. Die Nazis hatten ihn, wie eine wertvolle Marionette, in Vichy eingepackt und dann über Umwege hierher verfrachtet, ins „Schloss des Verrats“ wie die Résistance-Presse die Hohenzollern-Bude bald nennen wird. Er fühlt sich nicht wertgeschätzt. Aber so sind Faschisten nun mal: Wenn niemand mehr zum Demütigen übrig ist, demütigen sie ihre Verbündeten, was sollen sie denn sonst tun.

Aus Protest hat sich Pétain schon am 20. August, als die SS im Hôtel du Parc die Tür zu seiner Suite eingetreten hatte, sehr, sehr langsam angezogen. Seither hat er alles offizielle Sprechen und Handeln eingestellt, bis aufs Essen. Er isst viel, heißt es.

Premierminister Pierre Laval, ein Antimilitarist, den er verachtet, wie dieser ihn, und der im Schloss in der Etage unter ihm wohnt, aber den Aufzug nicht benutzen darf, streikt auch. Einmal macht er drüben in der Leopoldstraße in der Brauerei Zoller-Hof, wo die japanische Botschaft einquartiert ist, einen Staatsbesuch. Aber nicht bei der von Italien, gar nichts Offizielles mehr.

Pierre Laval war 1931 „Man of the Year“. Der einzige Franzose außer ihm, den das Time-Magazin so geehrt hat, war Charles De Gaulle Foto: wikimedia-commons/Time Magazine

Lavals Frau Jeanne, der in den 1950er Jahren gequält, geköpft, erstickt, die Toten erscheinen, die ihr Mann verschuldet hat, hasst die Deutschen von kleinauf. Sie hatte ihn bekniet, 1942 nicht wieder in die Kollaborationsregierung einzutreten, schreibt Fred Kupferman in seiner noch immer lesenswerten Laval-Biografie. Aber der Pazifist, den alle Welt als Musterschüler Aristide Briands kennengelernt hat, wähnt sich offenbar auf einer Friedensmission.

Er dient dem Frieden, als er in Reden Hitlers Endsieg herbeiwünscht. Er dient ihm auch, als er für die Nazis die Deportation der Juden organisiert und dabei sicher stellt, dass Kinder ihre Eltern nach Auschwitz begleiten müssen. Sein Antisemitismus ist dabei eher moderat, vergleichbar der heute salonfähigen Migrationsskepsis. Es suchen hier halt zu viele Schutz, die sollen das lassen, die können doch woanders hin.

Das deutsche Essen schmeckt Laval nicht, behauptet er anderen gegenüber. Die Köchin Anni, von Loges interviewt, hat da ganz andere Erinnerungen: Laval ist ein ziemlicher Topfgucker.

Zum Glück hat er bei der Abreise außer dem Pelzmantel mit Geheimtasche für Zyankali – ein Geschenk von Stalin! – mehrere Millionen Bargeld – Francs und Dollar – sowie geklaute Wertgegenstände aus dem Hôtel Matignon eingepackt. Plus, ganz wichtig!, Lucky Strikes, wohl auch Gauloises und einen Vorrat an Baltos, seine Lieblingsmarke: Laval raucht Kette, vor allem wenn er nachdenkt.

Und der Milchviehhalter und Anwalt tüftelt an seinem größten Plädoyer, dem für sich selbst. Ach!, im Prozess, als es so weit wäre, wird es niedergeschrieen; die Geschworenen versprechen ihm zwölf Kugeln in den Rücken; seine Verteidiger bleiben der Verhandlung im Pariser Palais de Justice fern, um ihrer Nachkriegskarriere keinen Schaden zuzufügen.

Nach fünf Tagen, am 9. Oktober 1945, ist das Urteil fertig. Wegen eines Suizidversuchs – warum lässt man ihm auch den Pelz! – findet die Hinrichtung erst am 15. statt: Bis ein Patient nach einer Magenspülung wieder fit genug ist, dauert es einfach.

Fernand de Brinon, Hitler-Groupie seit 1933, führt die Streikbrecher an. Die wollen in neoklassizistischen Prinzenbau unten in der City als Frankreichs Regierung in Deutschland regieren. Was, ist unklar, wie, noch unklarer. Und doch wollen Rivalen dem Marquis seinen Posten entwinden.

Bloß, als es der Ex-Kommunist Jacques Doriot gerade geschafft hat, wird er, im Auto auf dem Weg nach Sigmaringen, um die Regierungsgeschäftigkeiten an sich zu ziehen, am 22. Februar durch Maschinengewehrsalven vom Tiefflieger aus zerfetzt. Offenbar ein Zufallstreffer.

Die Frage der Hymne

Noch aber steht de Brinon vorn. Dass man weiterhin dem politischen Ziel diene, das der Maréchal verkörpere, tönt er. Er tut so, als interessiere sich irgendwer für die 2,25 Millionen französischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter in Deutschland, und nicht nur – auch eher am Rande – für die 65.000 Freiwilligen in SS, Miliz, Arbeitsdienst und ihre Familien.

„So dienen wir Frankreich“, ruft er, und dafür harre man hier aus im Glauben ans Vaterland und die Versöhnung mit Deutschland und Gottes Segen und Bla und Blubb. Und zum Schluss: „Vive la France, vive le Maréchal!“

Danach wäre Platz für eine Hymne. Ob sie erklingt, und welche, ist nicht überliefert. Die Deutschen, denen es ja zu gefallen gilt, mögen die Marseillaise nicht. Das Vichy-Huldigungslied allerdings hätte komisch wirken können: „Nous voilà, Maréchal“, heißt es.

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Das soll bedeuten, wir stehen bereit. Aber Kontext verändert Bedeutung, und die Lage in Sigmaringen würde den Sinn in Richtung „so weit ist es also mit uns gekommen“ verschieben. Hier haben gut 2.000 regimetreue Fran­zö­s*in­nen Zuflucht gesucht. Der Radiosender „Ici la Fance“ – Hier Frankreich – versorgt sie mit Propaganda. In der Zeitung La France können sie Kreuzworträtsel lösen, in denen „Résistant“, also Widerstandskämpfer, unter 1., vertikal, als anderes Wort für „bandit“ einzutragen ist.

Sparen wir uns mal die Namen der anderen, die dabei waren. Die verwirren ja nur. Die kennt ja keiner mehr. Selbst Nazi-Journalist Friedrich Sieburg, der nachher zur FAZ wechselt, wäre ja erklärungsbedürftig. Sichtbare Spuren? „Es gibt eine Wandkritzelei im nicht-öffentlichen Teil des Schlosses“, sagt Gabriele Loges, „und sonst eigentlich nur das Grab von Pauline Bonnard“. Auf dem Friedhof ehrt ein metallenes Jeanne d'Arc-Relief die Mutter eines vergessenen faschistischen Dichters.

Ein anderes Kaliber ist Céline, also Louis Ferdinand Destouches. Der vom „Stürmer“ wegen seines exorbitanten Judenhasses gefeierte Autor wird heute in Frankreich mehr denn je verehrt. Er kommt im November in Sigmaringen an, seine junge Frau im Schlepptau, den Kater in der Pelerine, im Schloss ist kein Platz mehr für ihn.

Seine Freunde, die Nazis, hatten im Juni verhindert, dass er zu seinem geliebten Geld nach Dänemark flüchtet. Mitunter bezeichnet er sie deshalb jetzt als Nazi-Gangster. In „D'un château l'autre“ entwirft er 1957 ein Fresko seiner Sigmaringen-Zeit. Das Buch enthält mehr Punkte, als Worte und mehr Ausrufezeichen als Sätze, und es liest sich wie der einzigartige Versuch, sich mithilfe von Fäkalien reinzuwaschen.

Den Ort nennt er konsequent „Siegmaringen“, ein Witz: Damit verspottet er die ausweglose Situation der Vichy- und Hitler-Getreuen, die auf die Reichsflugscheibe bauen, die es nie geben wird, oder auf die Rundstedt-Offensive, die im Winter in den Ardennen scheitert. An Doriots Todestag steigen die Célines dann wieder in den Zug. Diesmal erreichen sie Kopenhagen. „Er ist einer der ersten, die wieder abreisen“, sagt Loges.

Es ist ein Startsignal. Wer eins der seltenen Autos hat, setzt sich jetzt ab. Die Nachrichten von Erschießungen, Prozessen und Lynchjustiz verleihen auch anderen Flügel. All die Mitläufer*innen, „die sind regelrecht verschwunden“, sagt Loges. Als die Armee eintrifft, ist fast keiner mehr da.

Und fast keiner wird erschossen.

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Reporter und Redakteur
Jahrgang 1972. Seit 2002 bei taz.nord in Bremen als Fachkraft für Agrar, Oper und Abseitiges tätig. Alexander-Rhomberg-Preis 2002.
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