Sieg gegen Gutachterunwesen: Berufskrankheit anerkannt
Die Nervenschäden eines Arbeiters, der ein Lösungsmittel nicht vertrug, gelten als Berufskrankheit. Das haben Sozialgerichte nach acht Jahren zugegeben.
BERLIN taz | Das Bundessozialgericht hat ein wegweisendes Urteil gefällt. Faktisch beinhaltet der Beschluss vom 24. Juli 2013 den größten in Deutschland jemals errungen Sieg gegen das ärztliche Gutachterunwesen. Es ging um einen Holzleimbauer, der um die Anerkennung seiner Nervenkrankheiten und Chemikalienunverträglichkeiten als Berufskrankheit klagte und damit in zwei Instanzen gescheitert war (B 2 U 100/12 B).
Der Fall muss nun noch einmal aufgerollt werden, aber unter Anwendung der aktuellen medizinischen Kenntnisse. Was wie eine Selbstverständlichkeit klingt, ist das Revolutionäre.
Die Vorgeschichte ist lang: Im Jahr 2002 wurde der Initiative kritischer Umweltgeschädigter (IKU) bekannt, dass das im Jahr 1998 von der Regierung veröffentlichte ärztliche Merkblatt zur Berufskrankheit 1317 (Erkrankung des zentralen Nervensystems durch Lösungsmittel, BK 1317), an entscheidender Stelle gefälscht sei. Die taz berichtete darüber ab dem Jahr 2004.
Quellen wurden verfälschend zitiert
Im Merkblatt wurde behauptet, dass lösungsmittelbedingte Nervenschäden nach Expositionsende nicht fortschreiten können, ja sogar spätestens nach zwei Jahren verschwinden. Die dieser Aussage zu Grunde liegenden Quellen waren systematisch verfälschend zitiert.
Die Folge dieser Fälschung: Zigtausende Menschen mit schweren Nervenschäden hatten keine Chance auf Entschädigung von den zuständigen Berufsgenossenschaften.
Der zum Zeitpunkt der Merkblattveröffentlichung 1998 verantwortliche Arbeitsminister Norbert Blüm (CDU) gab eine Mitteilung heraus, wiederum abgedruckt in der taz, in welcher er sich deutlichst von dieser Auslegung distanzierte.
Sozialgerichte erkennen Manipulationsvorwürfe an
Petra Pau (Die Linke), stellte im März 2004 an die Regierung die Frage (Drucksache BtDrs 15/2726), wie viele Menschen in der Bundesrepublik Deutschland berufsbedingten Umgang mit Lösungsmittel haben (Antwort: in nahezu allen gewerblichen Bereichen) und bei wie vielen Menschen dieser Expositionsgruppe eine BK 1317 anerkannt wurde (Antwort: nur 43 Fälle in den Jahren zwischen 2000 und 2002).
Der zuständige Sachverständigenbeirat der Bundesregierung prüfte das Merkblatt und bestätigte die von der IKU erhobenen Manipulationsvorwürfe. Im Frühjahr des Jahres 2005 wurde im Bundesrat ein abgeändertes Merkblatt zur Berufskrankheit 1317 verabschiedet und im Mai 2005 im Bundesarbeitsblatt veröffentlicht.
Nun haben dies auch die Sozialgerichte anerkannt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku
Aktienpaket-Vorschlag
Die CDU möchte allen Kindern ETFs zum Geburtstag schenken