Rosa Luxemburgs Herbarium: Sie werden nicht gleich Verrat am Sozialismus wittern
Das Herbarium der Revolutionärin und Politikerin Rosa Luxemburg ist Zeugnis einer Welt im Umbruch. Zu deren Verhältnissen nimmt sie so Stellung.

Gepresste Blüten und Blätter, fein säuberlich arrangiert. Daneben: der Name, die lateinische Bezeichnung, die Familie, verwandte Arten. Rosa (Róża, Rozalia) Luxemburgs Herbarium ist mehr als eine botanische Sammlung. Die Präzision, mit der sie ihre Funde katalogisierte, die Sorgfalt, mit der sie Farbnuancen korrigierte – wenn etwa „violett“ durch „lila“ ersetzt wird –, zeugen von einem wachen Blick für das Unscheinbare und einer lebenslangen Auseinandersetzung mit der Natur.
Die ersten Einträge datieren auf den Mai 1913. Sie sind der Beginn einer Sammlung, die mit der „Schwarzen Johannisbeere“ beginnt und mit der „Mehligen Königskerze“ am 6. Oktober 1918 endet, kurz vor Rosa Luxemburgs Tod. Pflanzen bestimmen, mit Abbildungen abgleichen, trocknen, aufkleben – eine klare, sich wiederholende Aufgabe. Lange Stängel, feine Blattadern, kleine Kelchblätter – Hinweise, die sich ordnen lassen. Es gibt ein „gefunden“ oder „noch zu bestimmen“. Eine Struktur, die Halt gibt, in unübersichtlichen Zeiten, politisch wie gesellschaftlich.
Bekannt ist, dass Rosa Luxemburg sich 1890 als junge Abiturientin an der Universität Zürich einschrieb und dort auch Kurse der Botanik und der Zoologie belegte. Es folgte eine bemerkenswerte politische Laufbahn: erst in der polnischen und deutschen Sozialdemokratie, später als eine ihrer schärfsten Kritikerinnen und als zentrale Figur in der europäischen Arbeiter:innenbewegung.
Als marxistische Theoretikerin verband Luxemburg ihre ökonomische Analyse des Imperialismus früh mit einer radikalen Kritik an Militarismus, Kolonialismus und kapitalistischer Expansion – eine Hellsichtigkeit, die bis heute nachwirkt. Wie die politische Philosophin Lea Ypi festhält, bleibt Luxemburg „eine andauernde Inspirationsquelle, um über die Bedeutung sozialistischer Emanzipation jenseits nationaler Grenzen nachzudenken“.
Weniger bekannt ist ihr lebenslanges Interesse an der Botanik – eine Leidenschaft, die sie ausgerechnet im Mai 1913, auf dem Höhepunkt ihrer politischen Wirksamkeit, wiederentdeckte. Es war auch eine Zeit der inneren Spannungen: Luxemburgs Beziehung zu Leo Jogiches, einst revolutionärer Partner und enger Vertrauter, war geprägt von Entfremdung und Konflikten. Luxemburg lebte zunehmend allein, suchte emotionale Nähe in anderen Freundschaften, etwa zu Sophie Liebknecht oder Mathilde Jacob.
Ihre antimilitaristische Haltung isolierte sie in der sozialdemokratischen Partei. Nachdem sie im September 1913 deutsche Soldaten – so die Anklage – dazu aufgerufen hatte, im Kriegsfall nicht zu schießen, wurde sie im Februar 1914 zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Zugleich war sie intensiv in die Arbeit der SPD-Parteischule eingebunden, hielt Seminare zur politischen Ökonomie und publizierte politische Texte. Sie war gesundheitlich angeschlagen und zunehmend erschöpft.
Aufmerksam, präzise und zugewandt
Ein paar Jahre später schreibt sie, erneut inhaftiert, aus dem Gefängnis an Sophie Liebknecht: „Innerlich fühle ich mich in so einem Stückchen Garten wie hier oder im Feld unter Hummeln und Gras viel mehr in meiner Heimat als – auf einem Parteitag. Ihnen kann ich ja wohl das alles sagen: Sie werden nicht gleich Verrat am Sozialismus wittern.“
Diese Fantasien sind nie rein eskapistischer Natur. Auch in ihrem Blick auf Pflanzen, Tiere und Landschaften nimmt Luxemburg Stellung zu den Verhältnissen der Welt – etwa wenn sie den Rückgang der Vogelpopulation durch zunehmende landwirtschaftliche Eingriffe beklagt. Etwas zu bestimmen, aufmerksam, präzise und zugewandt zu betrachten, bedeutet hier auch: sichtbar machen und benennen.
Gleichzeitig spricht aus der Sammlung eine Geste der Selbstsorge. In einem Brief an ihre Freundin und Sekretärin Mathilde Jacob schreibt sie: „Ich kann wieder botanisieren, das ist meine Lieblingsbeschäftigung und beste Möglichkeit, mich zu entspannen. Seit Mai 1913 habe ich etwa 250 Pflanzen eingeklebt, alle wunderschön getrocknet.“
Versuch, sich neu auf die Welt einzustellen
Hier wird spürbar, was die Historikerin Hannah Proctor als eine Form des „anti-adaptive healing“ beschreibt – eine Praxis, Heilung zu suchen, ohne sich den gesellschaftlichen Normen zu beugen, gegen die sich der eigene Widerstand richtet. In ihrem Buch „Burnout. The Emotional Experience of Political Defeat“ fragt Proctor, wie sich politisches Fühlen, Denken und Handeln nach kollektiver Erschöpfung weiter entfalten kann.
Sie greift auf die Biografien historischer Figuren zurück und plädiert dafür, auch jene Momente ernst zu nehmen, in denen politische Subjekte sich zurückziehen – nicht aus Resignation, sondern um sich neu auszurichten. Luxemburgs Pflanzenstudien lassen sich in diesem Sinne nicht als Rückzug von der Welt lesen, sondern als Versuch, sich neu auf sie einzustellen.
Rosa Luxemburgs Herbarium hat längst eine eigene Biografie geschrieben. Historiker:innen nutzten es, um ihre Wege durch Genf, Berlin oder Wrocław zu kartieren – suchten in den Seiten nach Spuren geheimer Botschaften aus der Gefängniszeit. Andere lasen es wie ein verschlüsseltes Tagebuch, ein sogenanntes Egodokument, das zwischen Blütenblättern Wesenszüge preisgibt, die in politischen Schriften verborgen bleiben.

Sogar die materielle Substanz des Herbariums sollte untersucht werden – als forensisches Archiv, aus dem man DNA extrahieren wollte, um womöglich das Rätsel ihres Begräbnisorts zu lösen. Und noch immer ist unklar, wie die 18 Hefte ins Warschauer Archiv gelangten – ob über New York durch Verwandte Paul Levis, wie lange vermutet, oder ob sie Europa nie verließen.
Spuren quer durch Kontinente, Zeiten, Erzählungen
So ist das Herbarium selbst zu einem Objekt geworden, das Spuren zieht, quer durch Kontinente, Zeiten, Erzählungen. Es bietet die Möglichkeit, einen Moment ihres Lebens greifbar zu machen, der stark von Selbstzweifeln und Zukunftssorgen geprägt war: eine Annäherung an ihren Mai 1913.
Dabei zeigt sich: Rosas erstes erhaltenes Pflanzenheft ist auch ein Zeugnis einer anderen Zeitlichkeit. Einige der Arten wie die Gelbe Wiesenraute oder die Kleine Traubenhyazinthe sind heute selten geworden – verdrängt durch Düngung, Zersiedelung, Klimawandel. Und selbst der Rhythmus hat sich verschoben: Der Flieder, einst ein Taktgeber zwischen Frühling und Sommer, blüht heute oft Wochen früher, als Luxemburg ihn verzeichnete.
Das Herbarium Rosa Luxemburgs ermöglicht es uns, die Ambivalenzen und Widersprüche politischer Figuren zu erkennen, die häufig romantisiert werden. Zugleich kann das Herbarium für einen politischen Sommer stehen, als Vorbote großer sozialer und politischer Umwälzungen. Ihre Auseinandersetzung mit dem drohenden Krieg, ihre Überlegungen zum Massenstreik und ihre Verurteilung machten sie erstmals über Parteikreise hinaus bekannt.
Am 20. Februar 1914 nutzte sie ihre Anklage, um eine ihrer wichtigsten Reden zu halten. Wie sie immer wieder betonte, sei nicht „die Armee die kriegführende Partei“, sondern „das ganze Volk, die Masse der arbeitenden Männer und Frauen, Alten und Jungen“. Ein halbes Jahr später wird deutlich, was das bedeutet: Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs im August 1914 zerbrechen die Hoffnungen, die Widersprüche des Imperialismus offenzulegen und den revolutionären Funken der Zweiten Internationale lebendig zu halten.
Die fünf Jahre, in denen Rosa Luxemburg ihr Herbarium anlegte, stehen somit nicht nur für eine persönliche Neuorientierung. Sie verweisen vielmehr darauf, dass hier eine ganze Welt im Umbruch ist.
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