Sicherungsverwahrung: „Sie haben sich in Rage geredet“
Der Bremer Kriminologe Johannes Feest hat einen offenen Brief gegen die geplante nachträgliche Therapieunterbringung initiiert.
taz: Über eine nachträgliche Therapieunterbringung für Sicherungsverwahrte wird schon länger diskutiert – warum haben Sie jetzt einen offenen Brief dagegen initiiert, Herr Feest?
Johannes Feest: Der Begriff „Therapieunterbringung“ ist noch Ende 2010 im Justizministerium von Sabine Leutheusser-Schnarrenberger erfunden worden. Angesichts der Aufregung, als entlassene Sicherungsverwahrte versuchten, in Freiheit wieder Fuß zu fassen, musste sich das Ministerium etwas ausdenken.
Warum half da die nachträgliche Therapieunterbringung?
Man hatte in der Europäischen Konvention für Menschenrechte eine Klausel gefunden, wonach man Leuten bei „unsound mind“ die Freiheit entziehen kann, auch wenn sie sich nichts haben zuschulden kommen lassen.
Ist diese Kategorie „unsound mind“ so vage, wie sie klingt?
Das ist sie. Die Passage geht zurück auf Vorstellungen der 1920er-Jahre. Da steht im gleichen Satz, dass man auch Landstreicher und Alkoholiker sofort wegstecken kann. Aber der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat den Begriff des „unsound mind“ inzwischen relativ eng definiert, er verlangt echte Geisteskrankheit dafür.
74, Kriminologe und Rechtssoziologe in Bremen. Er ist einer der Initiatoren des offenen Briefes gegen nachträgliche Therapieunterbringung. Außerdem Mitbegründer des Arbeitskreises Sicherungsverwahrung sowie der Dokumentation www.strafvollzugsarchiv.de.
Wird es nicht selten sein, dass man eine so schwere Störung lange nach der Verurteilung feststellt?
Tatsächlich sagen viele Experten, dass es keinen Anwendungsbereich haben wird. Ich dachte damals, dass es ein schlauer Trick einer liberalen Justizministerin war, ein solches Gesetz, das der Europäische Gerichtshof möglicherweise kippen würde, zur Beruhigung der Bevölkerung zu erlassen.
Das dann wenige Anwendungsfälle hatte?
Es gab wenige und die vor allem in Bayern, wo etwa ein Dutzend Leute in die Psychiatrie in Straubing gesteckt wurde. Ich habe mit der Leiterin der Abteilung gesprochen. Sie sagte, dass die Leute nicht zu Therapien bereit waren. Sie sind sämtlich entlassen worden. Es war ein Etikettenschwindel und man konnte hoffen, dass es sich verläuft.
Bis die Politik das Thema wieder aufgriff.
Es gab Politiker, die sich damals so in Rage geredet haben, dass sie sagten: Wir brauchen etwas von Dauer, es gibt eine Sicherheitslücke. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat gesagt, dass nachträgliche Sicherungsverwahrung gegen das Rückwirkungsverbot verstößt. Deshalb will man nun den Umweg über das Therapie-Unterbringungsgesetz von 2011 nehmen, um eine dauerhafte Institution zu schaffen.
Was wäre künftig der Unterschied?
Das Leutheusser-Schnarrenberger’sche Gesetz bezog sich nur auf Sicherungsverwahrte, die nach der Klage vor dem Europäischen Gerichtshof entlassen wurden. Manche Juristen sagen, dass es ein Einzelfallgesetz war. Auf neue Fälle konnte es nicht angewendet werden. Nun ist es als reguläre Institution in den Koalitionsvertrag geschrieben worden und man kann bei jedem, der seine Strafe verbüßt hat, hinterher fragen: Sollte er nicht in nachträgliche Therapieunterbringung kommen?
Ist es auch ein Umschwung darin, dass psychische Krankheit kriminelles Verhalten begründen soll?
Eigentlich haben wir ein zweispuriges System: Die einen sind geistig gesund und begehen sozusagen aus Bosheit Straftaten, die anderen sind krank und können nicht bestraft werden, sondern werden direkt vom Richter in die Psychiatrie eingewiesen. Dies ist alles inzwischen durcheinander geraten.
Gibt es die von der Politik befürchtete Strafbarkeitslücke?
Nein. Es geht um Leute, die eine Strafe abgesessen haben, in schwerwiegenden Fällen 15 Jahre und mehr. Wenn sie dann entlassen werden, ist es eine Frage der Prognose, ob man sagen kann, sie werden weitere Taten begehen – das grenzt an Prophetie. Dann muss man sich mit anderen Mitteln behelfen, um einen Mindestschutz zu gewährleisten: Die Straftäter, die nach Lang-Strafen entlassen werden, haben alle Führungsaufsicht.
In Zeiten, in denen Sicherungsverwahrung in der breiten Öffentlichkeit kaum noch ein Thema ist, wie viel Resonanz findet da Ihr offener Brief?
Ich verspreche mir nicht viel davon, damit an eine große Öffentlichkeit zu gehen. Ich bin sehr zufrieden, dass wir eine bunte Mischung von Fachkreisen, Juristen, Psychiatern, Gefängnisgeistlichen und Sozialarbeitern erreicht haben. Daran merke ich auch, wie viele Leute darauf gewartet haben, sich an so etwas beteiligen zu können.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“