Sicherheitsrisiko im Reaktor: Bedrohliche AKW-Verstopfung
Bei einem Unfall können verstopfte Siebe des Kühlwassersystems zu einem ernsten Problem führen. Der Bund will tätig werden, die Länder mauern.
Als am 28. Juli 1992 ein Ventil im Kühlkreislauf des Atomreaktors Barsebäck in Schweden platzt, ahnen die Betreiber noch nicht, wie langwierig die Folgen dieses Zwischenfalls sein werden. Der heiße Wasserdampf, der mit hohem Druck aus dem Leck schießt, zerstört schlagartig große Mengen Dämmmaterial, das sich an den umliegenden Leitungen befindet. Etwa 200 Kilogramm Mineralfasern werden in größere und kleinere Stücke zerfetzt und mit dem austretenden Wasser zum Boden des Reaktors gespült.
Zunächst verläuft alles nach Plan. Die Reaktorsysteme werden von der Umwelt getrennt und auf das Notkühlungssystem umgestellt. Doch kurz danach kommt es zu Schwierigkeiten: Die für die Kühlung des Reaktorkerns zuständige Pumpe im Sumpf - so heißt der tiefste Punkt des Reaktors, in dem sich bei einem Störfall das Kühlwasser sammelt - versagt. Grund ist, dass das zerstörte Dämmmaterial die Siebe verstopfte. Erst nach vier Stunden, so zeigen die Protokolle des Unfalls, ist die Situation wieder entschärft, nachdem die Pumpen mehrmals auf Gegenrichtung umgeschaltet worden waren, um die Siebe zu befreien.
Experten sind davon überzeugt, dass die Konsequenzen katastrophal hätten ausfallen können: "Die Verstopfung des Notkühlsystems nach Auftreten eines Lecks im Primärkreis kann zum Schmelzen des Reaktorkerns führen", sagte der prominente Atomkritiker Klaus Traube im Umweltmagazin zeo2, das in seiner aktuellen Ausgabe über die Probleme berichtet. "Die ausgeklügelte, mehrfach gesicherte Auslegung des Notsystems würde durch eine solche Verstopfung unterlaufen." Auch Rainer Baake, früher Staatssekretär im Bundesumweltministerium und heute Geschäftsführer der Deutschen Umwelthilfe (DUH), meint, ein Reaktor müsse jederzeit gekühlt werden können. "Sonst kann es zur Kernschmelze kommen."
Nach dem Barsebäck-Vorfall gab es in den Jahren 1992 und 1993 noch in zwei US-Reaktoren ähnliche Probleme mit Verstopfungen durch Dämmfasern. Spätestens von diesem Zeitpunkt an suchten Atomtechniker weltweit nach Lösungen für das Problem. So wurde bei Versuchen in einer stillgelegten Siemensanlage in Erlangen mit veränderter Maschenweite und Größe der Siebe experimentiert.
Doch damit wurde das Problem nicht gelöst. Im Gegenteil: Aus Protokollen der Reaktorsicherheitskommission, die der taz vorliegen, geht hervor, dass die Betreiber auf neue Schwierigkeiten stießen: Losgelöste Dämmpartikel, die durchs Sieb gelangen, können sich im Reaktorkern zu einem "Faserfilz" ablagern, der die Kühlung der Brennelemente behindern kann.
Auf einer Sitzung im Dezember 2008 kamen die Mitglieder der Reaktorsicherheitskommission - die nicht gerade von Atomkritikern dominiert wird - zu der Erkenntnis, dass die vorliegenden Berichte "nicht in allen Aspekten nachvollziehbar sind und somit nicht als der vereinbarte und zugesagte geschlossene Nachweis angesehen werden können".
Der Versuch, die Beherrschbarkeit von Kühlmittelunfällen generell zu belegen, war damit gescheitert. Nun wollen die Betreiber keine weiteren Experimente mehr durchführen, sondern für jedes AKW einzeln zeigen, dass das Kühlwasserproblem dort im Griff ist. Doch weil das bisher nicht geschehen ist, kommt es nun zu Streit zwischen Bundesumweltminister Sigmar Gabriel (SPD), der laut Atomgesetz für die Sicherheit der deutschen Atomkraftwerke verantwortlich ist, und den Ländern, die die Aufsicht im Auftrag des Bundes ausüben. Länder und Betreiber müssten "schleunigst ihre Hausaufgaben machen", fordert Gabriel (siehe Interview). Der Bund hatte an alle betroffenen Landesministerien geschrieben, dass nach wie vor "keine ausreichende Gewissheit über die Störfallbeherrschung" besteht. Die gesetzte Frist für eine Stellungnahme bis zum 17. April hatten bis auf Bayern alle Länder verstreichen lassen.
Das Land Niedersachsen, das sich besonders beharrlich weigert, die Forderungen des Bundes zu erfüllen, ist darum für diesen Freitag zu einem Gespräch nach Berlin bestellt worden. Gabriel droht dem Land mit einer atomrechtlichen Weisung, und die kann enorme Konsequenzen haben. "Ein Verstoß gegen die Auflage ist ein Stilllegungsgrund", heißt es im Bundesumweltministerium. Das für die Atomaufsicht zuständige niedersächsische Umweltministerium bestätigt der taz, dass es "politische Differenzen mit dem Bundesumweltministerium" gibt, bestreitet aber ein Sicherheitsrisiko. "Wie groß das Problem tatsächlich ist, ist eine Interpretationsfrage", sagte Niedersachsens Atomaufseher Oliver Pietsch.
Die Reaktorsicherheitskommission habe "überkonservative Annahmen" zugrunde gelegt und sei von "realitätsfernen" Mengen an freigesetztem Isolationsmaterial ausgegangen: "Die Theorie ist nicht eins zu eins auf die Praxis übertragbar." Zudem seien die niedersächsischen Reaktoren schon technisch verändert worden. "Wenn es ein Sicherheitsproblem gäbe, dann wären die Anlagen nicht mehr in Betrieb." Jutta Kremer-Heye, Pressesprecherin des niedersächsischen Ministeriums, unterstellt Gabriel, dass es ihm gar nicht um Sicherheit gehe: "Ich halte das für machtpolitische Muskelspiele im Vorfeld der Bundestagswahl."
Einen Zusammenhang zur Bundestagswahl vermuten auch Umweltschützer - allerdings einen ganz anderen. Die Länder spekulierten offenbar auf einen Regierungswechsel im September und versuchten mit Verzögerungen, "das rettende Ufer der Bundestagswahl zu erreichen", sagt DUH-Sprecher Gerd Rosenkranz. Doch auch an Gabriel übt er Kritik: "Der Bund hätte die Länder schon viel früher auffordern müssen, aktiv zu werden."
Dass eine Abschaltung von Atomreaktoren wegen technischer Mängel möglich ist, hatte vor Jahren die rot-grüne Regierung in Hessen bewiesen: Unter anderem wegen Problemen mit den Sumpfsieben wollte sie das Atomkraftwerk Biblis A damals vom Netz nehmen. Dies wurde auf Anweisung von Angela Merkel - seinerzeit Bundesumweltministerin - verhindert.
Das AKW in Barsebäck, in dem die Probleme erstmals auftraten, wurde im Jahr 2005 abgeschaltet. Auch in Deutschland könnte das Umweltministerium Stilllegungen durchsetzen, meinen Experten. Ein Hinderungsgrund ist vermutlich ausgerechnet die Tatsache, dass praktisch alle Atomkraftwerke betroffen sind. "Wenn es nur um eine einzelne Anlage ginge, wäre vermutlich mehr passiert", heißt es aus der Reaktorsicherheitskommission. "Aber alle Reaktoren abzuschalten, hätte schon viel Mut und Durchhaltevermögen erfordert."
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