Sibylle Berg exklusiv für die taz: Die dressierten Hyänen
Es lässt sich aushalten, das Leben. Aber ist es auch noch erträglich, wenn die Leidenschaften verschwinden? Zum 1. Advent eine Meditation über Kompromisse, den Hunger und das Sattsein.
Es war so ein Moment, da die Seele den Körper verlässt, eine Runde dreht und sich das Desaster ansieht, ehe sie verstört wieder in den Leib kriecht, um Bericht zu erstatten.
Sie zuckte ein wenig zusammen, denn das Bild war erschreckend unattraktiv: Ein älteres Paar in einem Feinschmeckerrestaurant, das Zur Taube, Zum Gockel, Zum Hornvieh oder dergleichen hieß, es war das Jahr 2008, bald 2009, da nannte man teure Restaurants, in denen Weihnachtsessen stattfanden, so. Nicht mehr französisch, nichts mehr mit Cocque, sondern ehrlich, erdig waren die Namen und die Inneneinrichtungen. Gehobener Bürgergeschmack und immer waren großkarierte Stoffe und dunkles Holz im Spiel, immer standen exquisite große Stehlampen mit Textilquaderschirmen auf alten rustikalen Beistelltischen. Vermutlich gab es für Designer ein Programm im Internet, das sie herunterladen konnten und in dem alle Eckpunkte der gestalterischen Vorlieben wohlhabender Menschen um die 50 enthalten waren. Auf Englisch. Die Designsprache. Use a kind of Bauernmöbel but they must be made from Teakholz.
SYBILLE BERG, 46, Schriftstellerin und Dramaturgin, lebt in Zürich und wird geliebt für ihre gekonnten Hasstiraden. Ihr erster Roman "Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot", der zuvor einige Male abgelehnt worden war, erschien 1997 im Reclam-Verlag und wurde ein Bestseller. Zuletzt erschien von ihr bei Kiepenheuer & Witsch "Die Fahrt".
Alles im Leben folgte Codes. Stillen Übereinkünften, Gesetzen, die das Leben erleichterten, denn Routine schenkte einem eine gewisse Freiheit. Leute wie sie trugen, unabhängig von ihrer Verfassung, immer die gleichen Trikotagen. Die Herren Kaschmirpullover in Kanariengelb, Slipper und Wollhosen mit braunen Gürteln, die immer ein wenig zu weit oben am Bauch saßen. Die Haare waren nicht mehr vorhanden, zu viel Testosteron hatte die Herren schließlich dahin geführt, wo sie heute waren. Die Damen mit Kurzhaar immer in blond, Hosen mit Bundfalten von Max Mara, Poloshirts, wenn es leger sein sollte. Escada, wenn es was zu feiern gab, und sei es nur ein gutes Essen. Alle um sie sahen aus, wie Chinesen auf einen Europäer wirkten, wurde ihr in dieser Sekunde klar.
Da saßen Zahnärzte und Bauunternehmer, Verwaltungsratmitglieder und Halbleiterplattenherstellungsfirmenbosse mit Gattinnen, die Innendesign machten oder Dentalhygienekliniken besaßen, und aßen und redeten währenddessen ausschließlich darüber, was sie im Verlauf ihres Lebens schon zu sich genommen hatten.
Die Namen "Kleiner Guide de Michelin-Lokale in der Provence", Molekularküchengurus in Spanien und Fernsehköche in der Schweiz rieselten leise durch den Raum, während die Menschen auf den nächsten Gang warteten. Fünf davon, und es benötigte selbst bei sehr langsamen Kauen höchstens sechs Minuten, um einen zu verputzen, dann wurde wieder gewartet, eine halbe Stunde. Das bezahlte man im Anschluss, diese Zeit, die das Gefühl von frisch zubereitet, Handarbeit und Exklusivität ausmachte.
Die Gourmets von heute, das waren keine runden, lustig bacchantischen Schlemmer, sondern disziplinierte Bildungsbürger, die demnächst das Opernabonnement ihrer Eltern erben würden. Und sie mitten drin.
Noch drei Stunden essen mindestens. Und reden. Über Essen. Wie jeder Mensch fühlte sie sich natürlich anders, einzigartig, sie gehörte nicht zur Gruppe dieser etwas stereotypen Neureichen, sie erfüllte zwar scheinbar alle optischen Attribute, die sie als Angehörige dieser Schicht kennzeichneten, aber innen war doch alles nicht viel anders als damals, als sie zwanzig war oder in einem ähnlichen Alter, an das sie sich nicht mehr erinnern konnte, weil es zu weit entfernt schien.
Ihre Seele fragte: Glaubst du das wirklich? Und machte sich erneut auf einen Rundflug, diesmal mit weiter entferntem Ziel.
Ihr Mann steckte sich gerade ein Stück flambiertes Irgendwas in den Mund. Sein Gesicht verwandelte sich in das einer wiederkäuenden Kuh, was ihr nicht unangenehm war, denn Kühe waren als Tiere über jeden Zweifel erhaben. An den übrigen Tischen saßen Reptilien, Hyänen und Frettchen und ließen sie ihre Reise zügig fortsetzen.
Sie landete fast 30 Jahre früher. Und sah sich sitzen in einem gelben Untermietszimmer, in ihren Ohren rauschte es, von zu viel Stille. Sie war müde, es war kalt. Nachts arbeitete sie an der Kasse einer Diskothek. Oder als Putzkraft. Oder als Küchenhilfe. Geld hatte sie nie, und solche Angst und keine Ahnung vor was. Die Welt war zu groß, und sie noch zu jung, um irgendeinen Platz darin einzunehmen.
Essen hieß damals für sie Schmelzkäse und Knäckebrot, Tütensuppen und Äpfel, immer Hunger und unglücklich sein und sich sehnen. Mit einer Stärke, die ihr in ihrem heutigen Leben völlig abhandengekommen war. Etwas so sehr zu wollen und nicht zu wissen, was. Ihr Hunger damals war mit Essen nicht zu stillen gewesen. Sie erinnerte sich daran, dass sie einsam gewesen war, es war ihr nicht gelungen, mit anderen zu fühlen, sie konnte deren Gesichter nicht lesen und die Absichten dahinter.
Es rauschte in ihren Ohren, sie saß auf dem Bett in einem hässlichen Zimmer und hatte solche Angst, dass es niemals anders werden könnte. Keiner, der ihr gesagt hätte: Das ist nur die Jugend, die wächst sich aus, du musst einfach durchhalten, bis du dreißig bist, dann weißt du auch nicht viel mehr, aber es wird dir egal sein.
Furchtbare Jahre beschied sie, als der nächste Gang kam. Sie hörte sich etwas mit ihrem Mann reden, hörte sich lachen, so machten das alle. Kopieren, was der formale Rahmen unter dem Stichwort "Beziehung" vorgab, aber innerlich unterwegs sein. An einem traurigen Ort, wo missgestaltete Tiere an Brunnen tranken.
Zehn Jahre später war es ihr besser gegangen. Sie sah sich mit Mitte dreißig in einer reizenden Wohnung. Sie war zufrieden. Tags arbeitete sie irgendetwas, was auch noch nicht perfekt war, aber angenehmer als Büros zu reinigen am Morgen um vier. Sie hatte gelernt, Kontakt zu anderen zu haben, wenn auch nicht zu Männern, die waren ihr zu fremd. Es war das Alter, in dem man sich mit Freunden zum Essen traf, was meinte, man ging zu einem Italiener oder zum Griechen, man verbrachte seine Zeit mit anderen Alleinstehenden, die Freunde, die sich noch nicht in Kleinfamilien oder in therapeutische Einrichtungen verabschiedet hatten. Der Kühlschrank war gefüllt, und sie frühstückte regelmäßig.
Die Zeit zwischen dreißig und vierzig, wenn man nicht mehr an Wunder glaubt, aber doch noch ein wenig darauf hofft. Dass einem etwas zustünde, vom Leben, einfach weil man den Mist auf sich nahm, weil man sich ankleidete, Formulare ausfüllte, enttäuscht wurde, fror, das musste doch belohnt werden, konnte doch nicht sein, dass die tausend anderen Embryonen das große Los gezogen hatten.
Sie fühlte sich noch jung, stand auf dem Balkon ihrer überschaubaren Wohnung, sah den Schwalben zu, und der Hunger war leiser geworden. Es ließ sich aushalten, ihr Leben, wenngleich sie müde wurde bei dem Gedanken, es noch 40 Jahre in genau der gleichen Form fortzusetzen.
Das Dessert.
Und fast waren Körper und Seele wieder deckungsgleich. Weitere zehn Jahre später hatte sie ihren Mann getroffen, der damals noch Haare besaß und einen Beruf, den sie nicht verachtete. Sie war des Alleinseins müde und wartete nicht mehr auf große Leidenschaften, die hatte sie für untauglich befunden. Es schien ihr, als sei sie nach Ende ihrer Pubertät in einen leichten Schlaf gefallen, und Jahre später erwacht, in einem befremdlich großen Haus, mit einem Mann, der sein Haar verlor, fast fünfzigjährig, und ihr Herz, das machte ihr Sorgen manchmal. Es war so langsam geworden, so träge, und nichts vermochte sie mehr zu erregen. Die Dummheit nicht, die Verlogenheit und Gier, sie hatte sich damit abgefunden, eingesehen, dass man nur durchhalten musste, und das besser ging, wenn man es sich behaglich machte.
Wann genau sie begonnen hatte, es als normal zu empfinden, dass ein Kostüm zweitausend Franken kostete, wusste sie nicht mehr genau zu sagen, ebenso wenig, wann ihrer beider Leidenschaft für erlesenes Essen begann. Es hatte sich vermutlich so entwickelt.
Vielleicht hatten sie irgendwann entdeckt, dass es wirklich Unterschiede in der Qualität der Nahrung gab, dass ein teurer Wein besser schmeckte als ein billiger, dass man sehr erlesenen Fisch kaufen konnte, wenn man bereit war, für 100 Gramm 30 Franken zu bezahlen, und dass es Alternativen zum Italiener um die Ecke gab.
Wie alles im Leben konnte man auch in diesem Bereich tiefer gehen, weiter, über Grenzen, und irgendwann waren auch die Preise für hundert Gramm Trüffel normal, und wenn ein Restaurant keinen Stern aufwies, musste man über seinen Besuch nicht nachdenken. Nie mehr Hunger zu haben. Einen Menschen neben sich, der freundlich war und von leisem Temperament, keine Angst mehr, außer der vor dem Tod, der mit jedem Restaurantbesuch ein wenig näher kam, wie die ersten Flecken auf den Händen, die ersten grauen Haare, das war der Verfall, nichts würde ihn aufhalten können, das war ihr Leben, und es jetzt noch zu verändern ein Akt, der einer Kraft bedurfte, die sie nicht mehr hatte. Und ändern - in was?
In eine andere Stadt ziehen, alleine, in der niemand an einer alternden Frau interessiert war und da vielleicht eine andere Sprache gesprochen wurde?
Keine Alternative.
Das war ihr Leben, und es würde sie mit allen Feinschmeckerlokalen begleiten, bis sie es irgendwann final verlassen würde.
Der Espresso wurde serviert, und sie kehrte zurück. Sah den Mann ihr gegenüber, der vom Wiederkäuer zum Menschen geworden war, dessen Kopf ein wenig gerötet war und der eine große Zufriedenheit ausstrahlte. Er hatte gut gegessen, das Weihnachtsessen war vorüber, sie würden gleich in einem nach Leder riechenden Auto in eine nach Blumen riechende Wohnung fahren, sich aneinanderschmiegen und gemeinsam einschlafen, erwachen in einem neuen Tag, der ohne weitere Sorgen auf sie wartete. Die glücklichste Zeit ihres Lebens war jetzt.
Was war falsch daran, nichts mehr zu wollen, außer vielleicht ein wunderbares neues Restaurant, einen raren Wein zu entdecken? Viel mehr war es doch nicht, was von einem blieb. Ein Körper, im besten Fall ein wohlgenährter, der Futter würde. Da war nichts Schlechtes, am Sattsein. Dachte sie, lächelte, und war wieder eins, nach dem Moment der Verwirrung, die einen befällt, wenn die Seele kleine Ausflüge unternimmt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Umgang mit nervigen Bannern
Bundesrat billigt neue Regeln für Cookies