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Short Stories from AmericaFlötenfetischismus statt Basketball

■ New York war einst ein Paradies für Sporthasser. Das hat sich gründlich geändert

Einer der größten Vorzüge einer Kindheit in New York ist die Wertschätzung des Weichlichen. Vor allem ist die Stadt ein Paradies für Sporthasser und vielleicht die einzige Stadt Amerikas, wo ein Kind schlecht mit dem Ball sein darf – so wie ich es war, und wofür ich überall sonst im Lande zu leiden gehabt hätte. Nicht, daß ich unfähig gewesen wäre, irgendein Kind zu schnappen, das beim Baseball das zweite Mal abstauben wollte — bloß daß ich mich nie erinnern konnte, welches der Kissen auf dem Boden das zweite Mal war und mich immer wunderte, warum Leute aus anderen Städten sich so sehr aufregten, wenn ich dazu Kissen sagte. Wenn in meiner Nachbarschaft eine Mannschaft gewählt wurde, nahm man mich immer als letzte, knapp vor Donna, die als allerletzte gewählt wurde, weil sie so fett war.

Bis heute kann ich noch nicht auseinanderhalten, welche Mannschaft welchen Sport treibt, und das hat auch nie etwas ausgemacht, weil ich ja in New York aufwuchs. Es gab so viele andere Kinder, die beim Sport schlecht waren, daß wir keine verfolgte Minderheit waren, sondern eine Mehrheit von Spezialisten für die Stammbäume der europäischen Herrscherhäuser zum Beispiel oder Flötenfetischisten. Vor meiner Pubertät hätte ich mühelos die Namen aller englischen Könige aufzählen können (inklusive Königinnen), die Namen aller Propheten im Alten Testament und sämtlicher Ballerinen, die jemals Giselle getanzt hatten, in chronologischer Reihenfolge. Dafür kannte ich weder eine einzige Sportgröße beim Namen, noch hätte ich eine einzige Leistungsstatistik beim Baseball ausspucken können. Aber in New York fielen diese Charaktermängel gar nicht auf — eine Toleranz, die vermutlich aus der Einwanderertradition der Stadt herrührt, gefördert durch den Mangel an Sportplätzen. Meine Schule zum Beispiel besaß keinerlei Sportplätze und soweit ich weiß auch keine Mannschaft, weswegen ich in New York eine glückliche Kindheit hatte.

Aber heute ist die Toleranz, die ich als Kind kennenlernte, verschwunden, und ich bin eine Fremde in meiner eigenen Stadt. New York ist überschwemmt mit Erwachsenen, die davon leben, Bälle durch Reifen zu werfen. Innerhalb von zehn Tagen erlebten die New Yorker die Playoff- Runde im Eishockey — zum ersten Mal in 54 Jahren von einem New Yorker Team gewonnen, dazu die Basketball-Playoff- Runde — mit einem New Yorker Team im Endspiel, die Weltmeisterschaft im Fußball und die Schwulenspiele, die internationale Schwulenolympiade mit 11.000 Athleten, die eine Woche dauerte und zu der eine Million Zuschauer erwartet wurden. Wo hat New York auf einmal so viele Sportplätze her?

Die Schwulenspiele wurden zum Presseliebling, wobei die liberalen Zeitungen sich alle Mühe gaben, sie als ganz normales Sportereignis zu präsentieren. Die New York Times brachte in ihrer Freitagausgabe vier Seiten und zwei Seiten im „Metro“-Teil und am Samstag weitere eineinhalb Seiten, komplett mit einem detaillierten Verkehrsplan, damit die Leser Staus vermeiden konnten. Für den letzten Tag, den Tag der alljährlichen Schwulenparade, hieß es lakonisch: „Die Verkehrsbehörde rät Autofahrern ab, nach Manhattan zu fahren.“ Die anderen Zeitungen der Stadt gaben sich in ihrer Berichterstattung ähnlich großzügig, und das Fernsehen übertrug die Eröffnungsfeier der Schwulenspiele in voller Länge. Am Sonntag ging es weiter mit Berichten in den Nachrichtenteilen, Artikeln über die Schwulenkultur auf der ersten Seite des „Kunst und Freizeit“- Teils der Times und mit Kommentaren, in denen sich heterosexuelle Kommentatoren ihrer Solidarität mit den Schwulen rühmten, was ein bißchen an JFK als gefüllten Berliner erinnert.

New York protzt gern mit seiner Toleranz – bloß nicht gegenüber Leuten, die keine Bälle durch Reifen werfen mögen. Ich persönlich finde die Schwulenspiele ja besonders schrecklich, denn ich habe immer geglaubt, daß Leute, die alle Texte von Brigadoon und die Stammbäume der europäischen Herrscherhäuser kennen, nie auf die Idee kämen, Bälle durch Reifen zu werfen. Außerdem glaubte ich, sie hätten mehr für andere Spiele übrig. Ich hatte mich getäuscht. In dieser Woche begriff ich endlich, was schwule Aktivisten schon seit Jahren behaupten: Schwule sind wie alle anderen.

Interessanterweise gibt es trotz dieses überwältigenden Beweises der Konformität immer noch einige Leute, die auf einem Unterschied zwischen Schwulen und anderen beharren. Eine Umfrage der New York Times und des Fernsehsenders WCBS ergab in der vergangenen Woche, daß 36 Prozent der New Yorker Schwule für moralisch minderwertiger als „Normale“ halten. In anderen Teilen Amerikas ist der Prozentsatz höher. Ehrlich gesagt war es mir nie in den Sinn gekommen, daß Heterosexuelle überlegen sein könnten. Heterosexuelle führen Kriege und stellen normale Kleider her; Schwule machen Kunst und können gut Haare schneiden. Eigentlich gibt es da keine Konkurrenz, wie auch das andere Titelthema der Woche bezeugt: die Geschichte des ehemaligen Football-Helden O.J. Simpson.

Dieses Aushängeschild der Heterosexualität verprügelte regelmäßig seine Frau (neunmal mußte die Polizei ins Haus kommen, wie uns die Flut der Presseberichte aufklärte), brachte sie angeblich um, nahm an ihrer Begräbnisfeier teil und lieferte sodann der Polizei eine Verfolgungsjagd über die Autobahnen von Los Angeles, die die Nation im Fernsehen mitansehen mußte, weil alle anderen Sendungen prompt aus dem Programm flogen. Sie verdrängte das Spiel der Knicks (keine Ahnung, in welcher Sportart diese Mannschaft spielt) und wurde zum größten Presseereignis der Woche. Größer als die Schwulenspiele, größer auch als die Hockey-, Basketball- und Fußballspiele, und nur weil O.J. so gut mit Bällen und Reifen umgehen konnte. Ich habe es immer gewußt: Bälle und Reifen führen zu keinem guten Ende.

Aber heute ist meine Stadt überschwemmt von Ball-und- Reifen-Enthusiasten, sogar schwulen, die anscheinend genau wie O.J. sein wollen. Da das Paradies meiner Kindheit verloren ist, werde ich mich mit einem Besuch bei Marie's Crisis begnügen müssen, einer Bar in Greenwich Village für alte Tunten, die Baseballmale immer noch Kissen nennen und aus vollem Halse Brigadoon mitsingen. Die letzten derer, die als Kinder schlecht im Sport waren. Marcia Pally

Aus dem Amerikanischen von Meinhard Büning

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