Shoppen: Der süße Duft der Prignitz
Mit der Mall of Berlin hat die Hauptstadt einen neuen Einkaufstempel der Superlative.
„Scenes from a mall“ heißt ein Film von Paul Mazursky, in dem ein Ehepaar sich einen Tag lang durch eine weitläufige Shopping-Mall bewegt, sich unterhält, sich streitet, sich verlässt, sich wieder verträgt und dabei permanent konsumiert: Kaffee, Eis, Kleid, Kino, Ring, Nudeln. Und alles auf Rolltreppen.
Als Hintergrund für solcherlei Dramen wäre auch der neue Tempel am Leipziger Platz geeignet: 210.000 mit Marmor und historischen Fotos dekorierte Quadratmeter, zwei Stockwerke plus Erdgeschoss und Untergeschoss, zwei durch Brücken verbundene Gebäude auf dem alten Wertheim-Standort, und wenn man auch nur einen der überall feilgebotenen Gratisdrinks zu viel kippt, kommt man sich vor wie in einem MC-Escher-Bild.
Am Eröffnungstag von „LP12“, der „Mall of Berlin“, haben die HändlerInnen am Donnerstag alle verfügbare Man- und Womanpower zusammengeworfen, sodass fast vor jedem der 270 Shops ein junges Ding mit Sekttablett die KundInnen anlockt. DJs mixen dazu M.I.A. und Beyoncé vom Laptop, damit die Kunden sich wie im Club fühlen.
Doch durch das Prosecco-Paradies schieben sich bis zum Mittag zunächst die, die nicht (mehr) in der Schule oder bei der Arbeit sind: gutmütige Berliner Ehepaare, die für jedes Werbegeschenk ein Händchen freihaben. An der Gratis-Kaffee-Schlange bestellt einer seinen „Espresso, bitte janz schwarz wie meene Füße“, medioker angeschickert kichert seine Frau derweil über die beiden Surferbodytypen in Badehose, die vor einer verwinkelten „Jeanslounge“ KundInnen kobern sollen.
Und sie hat ja recht: Wenn es dort so tolle Hosen gibt, wieso wollen die Angestellten keine tragen?! Ohnehin ist nicht die Frage, ob die Stadt einen weiteren Konsumpalast braucht, denn beim „Shoppen“ geht es nicht ums Brauchen. Was gebraucht wird, ist höchstens ein bisschen mehr Platz für den neuen Flachbildschirm: Anstatt Handtaschen tragen Hunderte von Menschen überdimensionale Tüten aus dem Markt für Unterhaltungselektronik über der Schulter.
Gleich danach kommen die Textilketten, die es in jeder Stadt, in jedem Einkaufszentrum und auch noch im Internet gibt, was bekanntlich noch nie ein Problem darstellte: Für viele KonsumentInnen hat Mode nur bedingt mit Individualität zu tun.
Einer der wenigen exklusiven Geschäfte liegt im ersten Stock des dem Leipziger Platz zugewandten Gebäudes und verkauft trotz frankophilen Accent aigu auf seinem Namen Parfüm aus der Prignitz, die überraschend blumig, bergamottig und nach Boudoir mit Plüschsandälchen duftet.
Das „von Frauenhand geführte“ Unternehmen ist, wie die Pressesprecherin erklärt, gerade nach Perleberg umgezogen und lässt sich die Flakons von einem Berliner Künstler designen, der die „Nina von Sighn“-Duftreihe mit der Hintergrundgeschichte seiner Familie ausstaffiert hat: Die in den 30ern aus Berlin ausgewanderte Industriellengattin von Sighn schwärmte als junger Heißsporn verbotenerweise für einen fremden Mann (Duftflakon „Hidden Love“), der erste Kuss inspirierte das zweite Parfüm („Happily“), und die erste heiße Nacht das dritte („Queen of Heart“). Der Tunichtgut, mit dem jene Dame all diese Gefühlsachterbahnen erlebte, bekam ebenfalls einen Duft gewidmet: Auf dem Flakon prangt die Zeichnung eines Fauns.
Im zweiten Stock, unter leicht an Art Déco erinnernden Bögen, duftet die „Foodcourt“ – und macht ganz schön Krach: Vor einem der vielen Asien-Imbisse haben sich gleich zwei chinesische Glücksdrachen in die Menge gequetscht und winden sich zum Klang der blechernen Zimbel. Der Thai-Straßenstand nebenan erklärt mit Animé-Zeichentrickfilmen, wie man bestellt: Ein blauhaariges Mädchen mit glänzenden Manga-Großaugen kann sich gar nicht entscheiden, wird aber von einer Pinkhaarigen unter die Fittiche genommen.
Über die Brücken geht es in das andere Gebäude – in diesem Stockwerk liegt die Kinderecke mit Spielzeugläden, einem Bastelgeschäft mit dem experimentell buchstabierten Namen „Das creative Hobby“, in dem man sich bis zur Besinnungslosigkeit mit Zutaten zum Strickfilzen, Fleurogami, Pom-Pom-Puppen und Fenstermalerei ausstaffieren kann, und der Maulwurf-Club. Dessen Vis-à-vis-Nachbar ist ein sich über zwei Stockwerke erstreckender, cooler Männerausstatter, der bestimmt nicht so ganz zufrieden mit der Platzwahl gewesen ist.
„In Amerika fahren jetzt ja alle nur noch ins Outlet“, sagt einer der LP12-Passanten zu seinem Shoppingbuddy. Aber der ist vor der nicht rechtzeitig eröffneten Kartoffelpufferbude stehen geblieben – und guckt sehnsüchtig auf den verlassenen Tresen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen