Sexuelle Gewalt in Indien: Wir sind alle Daminis

Indien diskutiert die systematische Missachtung von Frauen. Selten werden Übergriffe geahndet, denn auch der Staat missbraucht seine Bürgerinnen.

Demonstrantin bei einem Trauermarsch für das Vergewaltigungsopfer Damini am 29. Dezember 2012 in Neu-Dehli. Bild: dpa

Seit der Gruppenvergewaltigung einer 23-jährigen Studentin in Neu-Delhi am 16. Dezember halten die Proteste in den Straßen der indischen Hauptstadt und die Diskussionen zur Situation von Frauen in der größten Demokratie der Welt an. Wofür stehen die grausame Gewalttat und die sich an ihr erhitzenden Debatten? Wie ist es um die Sicherheit und Rechte der Töchter dieses an ökonomischer und politischer Bedeutung gewinnenden Global Players bestellt? Und worin könnte eine solidarische Perspektive auf die Ereignisse bestehen?

Der Fall von „Damini“, wie das bis vor wenigen Tagen anonyme Vergewaltigungsopfer auch genannt wurde, hat in Indien eine in solcher Sichtbarkeit und Breite bislang nicht da gewesene Debatte über frauenfeindliche Gewalt ausgelöst. Sie wird vor allem von einer urbanen Mittelschicht und einer neuen ökonomischen und intellektuellen Elite getragen – und so geht es auch vor allem um Probleme, die deren Lebensalltag betreffen.

Die Seite an Seite mit ihren Müttern und Freunden demonstrierenden jungen Frauen wissen, dass das Schicksal des bis vor einigen Tagen namenlosen Vergewaltigungsopfers ebenso ihnen zuteil werden könnte, wenn sie abends ausgehen oder von der Arbeit nach Hause fahren. Diese Frauen sind gebildet, selbstbewusst und kritisch. Für sich und für ihre Schwestern fordern sie ein selbstbestimmtes Leben, einen sicheren und gleichberechtigten Zugang zum öffentlichen Raum. Dabei üben sie scharfe Kritik an den diskriminierenden Strukturen, die der ihre Gesellschaft durchdringenden sexuellen Belästigung von Frauen und Vergewaltigungen Vorschub leisten.

Kritik an Passivität von Polizei und Politik

An Gesetzen zum Schutz von Frauen vor Gewalt und Diskriminierung fehlt es in Indien nicht. Ihre Implementierung wird jedoch vielerorts durch männlichen Chauvinismus und den fehlenden Willen, Sexualdelikte aufzuklären und Täter zur Rechenschaft zu ziehen, erschwert. Insbesondere Polizei und Politiker kommen darum in der medialen Kritik schlecht weg. So laufen gegen knapp ein Drittel aller Parlamentarier in Indien Verfahren wegen sexueller Übergriffe. Um Vergewaltigungen zu verhindern, fordern manche von ihnen nächtliche Ausgangssperren für Frauen, anstatt eine urbane Infrastruktur zu schaffen, die zu jeder Tages- und Nachtzeit Sicherheit bietet. Einige machen gar den Kleidungsstil oder das Freizeitverhalten junger Städterinnen für Verbrechen wie die Vergewaltigung mitverantwortlich.

Solche Äußerungen sind repräsentativ für ein konservatives Denken, das die Verantwortung für die männlichen Triebe nur bei den Frauen und ihrem Verhalten verortet. Dies wird von den protestierenden Frauen jedoch nicht mehr akzeptiert. Der Fall Damini verweist nicht nur auf die soziale, sondern auch auf eine tiefe ideologische Kluft, die die indische Gesellschaft durchzieht. Und die muss dringend politisch verhandelt werden.

Konservative Politiker aus dem hindunationalistischen Milieu sehen die zahlreichen Vergewaltigungen als Folge der sich rasant entwickelnden anonymen Metropolen, während in einem nach dieser Lesart wahreren Indien der Dörfer kulturelle Werte griffen, die sexuelle Übergriffe verhindern. In der gegenwärtigen Diskussion wurde jedoch auch die bislang wenig beachtete Gewalt gegen Frauen weitab von den Sorgen und der Lebenswelt der streitbaren urbanen Mittel- und Oberschicht zur Sprache gebracht.

Häufig wird diese innerhalb eines Machtgefälles ausgeübt, das nicht nur durch das Geschlecht, sondern auch sozial bestimmt ist – wodurch Täter umso weniger mit Sanktionen zu rechnen haben. In diesem Zusammenhang seien Vergewaltigungen innerhalb der Familie genannt, der von weiblichen Hausangestellten, von Frauen aus niederen sozialen Schichten, auch die zahllosen ungeahndeten Vergewaltigungen von Frauen durch Angehörige der indischen Armee in den Konfliktgebieten innerhalb der Grenzen des indischen Hoheitsgebiets, so etwa in Jammu und Kaschmir und im Nordosten des Landes.

Mehrere Sondergesetze schützen die Soldaten in diesen Regionen selbst dann vor Strafverfolgung, wenn Anzeigen gegen sie vorliegen. Bis heute zum Beispiel wurden jene Täter nicht zur Rechenschaft gezogen, die in einer Nacht des Jahres 1991 etwa 50 Frauen in dem Dorf Kunan Poschpora in Jammu und Kaschmir vergewaltigt hatten. Sie stammten aus den Reihen des Militärs. In solchen Fällen geht es um mehr als das Patriarchat, männlichen Chauvinismus und unwirksame staatliche Strukturen.

Es ist der indische Staat selbst, der als Täter in Uniform auftritt, der seine eigenen Bürger sexuell missbraucht, wo er sich zu deren Schutz verpflichtet hat. Wie in anderen Konflikten weltweit wird auch hier sexuelle Gewalt als militärische Waffe eingesetzt. Beraubt sich die Indische Union durch diesen systematischen Bruch des internationalen Rechts nicht selbst der Legitimation ihrer politischen Forderungen als aufstrebende Weltmacht? Hier wirken keineswegs die Mechanismen eines Entwicklungslandes mit überholten, kulturell verwurzelten Strukturen, sondern das hocheffektive Gefüge eines seine Interessen erfolgreich durchsetzenden, imperial agierenden Staates.

Diese Manifestationen sexueller Gewalt in Indien müssen sowohl in der dortigen Debatte als auch hierzulande stärker in den Blick genommen werden und das Verhältnis des politischen Zentrums Indiens zu seinen Rändern genauso wie unser Verhältnis zu unserem wichtigsten Handelspartner in Südasien neu bestimmen.

Eine neue Debatte über sexualisierte Gewalt

Daminis Vergewaltigung hat eine Gesellschaft zum Innehalten und zur kritischen Selbstbetrachtung gebracht. In den Medien und auf Demonstrationen wurden gesellschaftliche Praktiken und Strukturen benannt, die Frauen diskriminieren und Gewalt gegen sie begünstigen, und deren Veränderung gefordert. Die Solidarität mit den indischen Frauen darf sich jedoch nicht auf die Betrachtung der dortigen Probleme oder die feministische Bewegung auf der Straße beschränken. Genauso laufen stereotype Beschreibungen einer frauenfeindlichen indischen Kultur Gefahr, in kultureller Selbstvergewisserung zu enden – dies wiederum wäre Wasser auf die Mühlen der hiesigen Konservativen, die keinen Handlungsbedarf in Sachen Diskriminierung und frauenfeindlicher Gewalt sehen. Solidarität kann für Deutschland nur ein ebensolches selbstkritisches Innehalten bedeuten, sowohl mit Blick auf Indien als auch auf feministische Anliegen in unserer Gesellschaft. Denn auch hier wäre eine Debatte, die Diskriminierung und Gewalt gegen Frauen thematisiert und die Politik zum Handeln zwingt, wünschenswert.

Die vom indischen Staat durch sein Militär ausgeübte sexuelle Gewalt muss in der aktuellen Diskussion eine größere Rolle spielen – für Aktivistinnen genauso wie für Politiker. Denn die Verletzlichkeit Daminis teilen alle Frauen, in Delhi wie in Kaschmir und auch hierzulande.

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