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Sexualität und Behinderung

betr.: „Ein lebendiges Wunder“ von Andreas Hergeth, taz Mag vom 11. 8. 01

Wie schön, dass ihr euch des Themas endlich einmal angenommen habt! Wie schade, dass auch dieser Artikel eure behindertenpolitische Optik der letzten Zeit unterstreicht: Da sind einerseits die armen total unfähigen bedürftigen Behinderten und andererseits die Helfer. Es ist klar, wer hier den aktiven gestaltenden Part spielt und wer den passiv empfangenden darstellt.

[. . .] Die Realität ist anders, auch beim Sex, und auch bei Leuten wie Karsten, die sich kaum noch äußern können. Es gibt immer Aktivitäten von beiden Seiten, und auch empfangende bedürftige Haltungen.

Wie schade, dass ihr so etwas wie unsere Initiative „Sexybilities“ in diesem Zusammenhang nicht einmal erwähnt. Wir setzen uns als Behinderte mit dem Thema Sexualität und Behinderung auseinander; wir bieten u. a. Sexualberatung für Behinderte von Behinderten an (Beratungstelefon 0 30-68 08 05 76) und wir empfehlen bei Nachfrage auch weibliche und männliche Prostituierte, von denen wir wissen, dass sie keine Berührungsängste haben und sich auch speziellen Erfordernissen, wie denen von Karsten oder Frank, zu stellen bereit sind.

Sehr geärgert hat mich in diesem Zusammenhang auch die unkommentierte Meinung von Karstens Mutter, dass man Menschen, die auf diese Weise für behinderte Menschen da sind, nicht einfach Prostituierte nennen darf. Sexualbegleitung für Behinderte (übrigens ein schrecklich unerotisches Wort) ist eine sexuelle Dienstleistung (noch mal ein schrecklich unerotisches Wort), also eine Form der Prostitution. Sie hat – wie viele anderen Formen der Prostitution auch – eine wichtige gesellschaftliche Funktion. Und es gibt andererseits auch hier viel Fragwürdiges und Problematisches. Jedenfalls verdienen Prostituierte – seien es nun Sexualbegleiterinnen, Callboys, edle Bardamen oder kleine Stricher – unsere Achtung und Wertschätzung.

Letztendlich ist die Problematik von Sexualität und Behinderung nicht mit Prostitution zu lösen. Die Inanspruchnahme sexueller Dienste kann sexuelle Nöte lindern und Brücken zur lustvollen Erfahrung der eigenen Leiblichkeit bauen. Darüber hinaus ist ein breiter Diskurs über Attraktivität, Lust, Körperlichkeit etc. nötig, der bei weitem nicht nur behinderte Menschen und Sexualbegleiter angeht. MATTHIAS VERNALDI, „Sexybilities“, Berlin

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