Sexdebatten im Maghreb: Verbieten und verschweigen
Vorehelicher Geschlechtsverkehr steht in Marokko unter Strafe. Wer das infrage stellt, bringt Islamisten gegen sich auf. In Tunesien ist die Rekonstruktion des Jungfernhäutchens erlaubt.
MADRID taz | Im konservativen Königreich Marokko und im eher liberalen Tunesien wird derzeit lebhaft über Sex diskutiert. Die Debatten in beiden Ländern zeigen einen unterschiedlichen Umgang mit gesellschaftlichen Realitäten.
Während es in Tunesien um das Jungfernhäutchen geht, musste in Marokko der Journalist Mokhtar Laghzioui die Erfahrung machen, dass man es schnell mit hartgesottenen Islamisten zu tun bekommt, wenn man das Gesetz, das Sex vor der Ehe verbietet, infrage stellt.
Der Herausgeber der offensiv antiislamistischen Zeitung Al Ahdat al Maghrebia forderte in einem Gespräch im libanesischen Satelliten-TV Al Mayadine für seine Landsleute sexuelle Freiheit. Prompt stellte der Imam Abdalah Nhari aus dem nordostmarokkanischen Oujda eine Fatwa – einen islamisches Gutachten – gegen Laghzioui aus. Er sei bar jeder Eifersucht und gebe damit die Frauen seiner Familie dem sündigen Leben preis, heißt es in einem Internetvideo. Für solche Menschen empfiehlt eine Koransure die Todesstrafe.
In Marokko weiß jeder, dass Sex vor der Ehe für viele junge Menschen längst kein Tabu mehr ist. Die schwierige soziale Lage hat, wie auch in Tunesien, das Heiratsalter ansteigen lassen. „Ich weiß nicht, warum der Staat per Gesetz über die Keuschheit wachen muss, wir haben doch eine demokratische Verfassung“, beschwert sich die Gründerin der Alternativen Bewegung für persönliche Freiheiten (MALI), Zineb El-Rhazoui. Und die marokkanischen Menschenrechtsorganisation AMDH fordert die Abschaffung des Gesetzes.
Streit um vorehelichen Sex erreicht Parlament
Die Islamisten stellen sich hinter den Imam aus Oujda. „Die laizistische Strömung nutzt die Provokation und die Toleranz […] mit dem Ziel, die islamistische Bewegung anzugreifen“, heißt es in der Zeitung Attajdid. Und ein Abgeordneter der regierenden islamistischen Partei für Justiz und Entwicklung (PJD) besteht darauf, dass „alle sexuellen Handlungen außerhalb der Ehe als kriminell“ anzusehen seien.
Der Streit ist bereits bis ins Parlament vorgedrungen. Die sozialistische Fraktion stellte eine Anfrage an den islamistischen Justizminister Mustafa Ramid. „Wir lehnen die Straffreiheit von außerehelichen sexuellen Beziehungen ab. Sie sind pervers und verstoßen gegen die Prinzipien der öffentlichen Ordnung in Marokko. Eine von deren Säulen ist die Religion“, antwortete dieser.
„Es wird wohl ein heißer Sommer“, prophezeit die Tageszeitung Akhbar al Youm angesichts des Streits zwischen der Tradition, vertreten durch die neue islamistische Regierung, und einer modernen Zivilgesellschaft.
In Tunesien indes wird nicht gleich mit einer bedrohlichen Fatwa gewedelt, wenn etwas tunlichst Verschwiegenes öffentlich debattiert wird. „Ärzte schätzen, dass sich nur 5 Prozent der tunesischen Mädchen keine Sorgen über die Jungfräulichkeit machen.
Blutbeflecktes Laken als Zeichen der Unberührtheit
20 Prozent seien ’echte‘ Jungfrauen, während drei Viertel der jungen Frauen ’assistierte Jungfrauen‘ seien“, heißt es in dem jüngst auf Französisch erschienen Buch „Jungfrauen? Die neue Sexualität der Tunesierinnen“ der Psychoanalytikerin Nedra Ben Smail, das für Aufregung sorgt. Drei Viertel der Frauen gehen demnach mit einem chirurgisch rekonstruierten Jungfernhäutchen in die Ehe.
Der Eingriff soll dafür sorgen, dass die Braut nach der Hochzeitsnacht ihrer Schwiegermutter ein blutbeflecktes Bettlaken zum Beweis ihrer Unberührtheit zeigen kann. Ben Smail beruft sich auf Daten, die sie in einer Umfrage unter Ärzten und jungen Frauen erhoben hat.
„Alle kennen die Möglichkeit eines chirurgischen Eingriffs“, ist sich Ben Smail sicher. Umgerechnet 300 bis 500 Euro kostet die Operation. Die meisten Kliniken sind in Tunis und Sfax.
Während in Tunesiens Öffentlichkeit diese Zahlen von vielen als übertrieben angesehen werden und die Autorin kritisiert wird, haben sich die religiösen Autoritäten längst auf die gesellschaftliche Realität eingestellt. Eine Fatwa, ein religiöser Rechtsspruch, erlaubt die Rekonstruktion des Jungfernhäutchens. „Die Behörden haben die Operationen für rechtmäßig erklärt, um den sozialen Zusammenhalt zu wahren. Für die Religiösen stehen die Werte und die Diskretion, die es verbietet, das Intimleben zu enthüllen, über der Wahrheit“, erklärt Ben Smail.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Kaputte Untersee-Datenkabel in Ostsee
Marineaufgebot gegen Saboteure
Aufregung um Star des FC Liverpool
Ene, mene, Ökumene