Sexaktivistin Helga Goetze: Ficken für den Frieden!
Sie war Provokateurin, Sexaktivistin, ja vielleicht ein feministisches Gesamtkunstwerk. Erinnerungen an Helga Goetze zu ihrem 100. Geburtstag.
Doch wer war der Mensch Helga Goetze?
Die meisten erinnern sich an ihre sogenannte Mahnwache vor der Gedächtniskirche, wo Goetze von 1983 bis kurz vor ihrem Tod 2008 nahezu jeden Tag saß. Einigen ist sie vielleicht auch als streitbare Kämpferin in Sachen Frauenrechte in Erinnerung, vor allem als Störenfriedin bei den alljährlichen Frauen-Sommer-Universitäten vor der Technischen Universität. Und andere wiederum haben noch ihre provokanten Auftritte im Fernsehen und Radio im Kopf, etwa 1982 in der SFB-Talkshow Arena, in der sich Goetze vor laufender Kamera nackt auszog. Damals ein Skandal.
Provokateurin, Sexaktivistin, ja vielleicht feministisches Gesamtkunstwerk – so hat sich Helga Goetze beim Publikum eingeprägt. Dabei hatte die 1922 in Magdeburg geborene Tochter eines abgedankten Marineoffiziers bereits ein volles Leben hinter sich, ehe sie ab 1978 in Westberlin durch ihre Aktionen von sich reden machte.
Galerist und Autor aus Berlin, hat Goetze mehrfach vor der Gedächtniskirche erlebt. Seine Biografie von Helga Goetze ist ab März erhältlich. Er liest daraus am 12. März um 11 Uhr im Märkischen Museum.
Eine Kaskade von Männerbekanntschaften
Vom Vater stark geprägt, von der Mutter emotional zurückgewiesen, hat Goetze ein verstelltes Verhältnis zu sich und ihrer eigenen Sexualität. Der frühen Heirat mit einem älteren Bankkaufmann inmitten der Kriegswirren 1942 folgen die Flucht nach Hamburg und sieben gemeinsame Kinder. Der Haushalt ist groß, die Kinder halten sie beschäftigt, das BRD-Wirtschaftswunderland der sechziger Jahre bietet ein gutbürgerliches Leben. Helga Goetze besucht einen Lesekreis, absolviert anthroposophisch geprägte Bildungsurlaube und engagiert sich über ihre beiden Söhne sogar in der aufkommenden Kriegsdienstverweigererszene.
Cai Wagner, Galerist und Autor aus Berlin, hat Goetze als Student mehrfach vor der Gedächtniskirche erlebt. Seine Biografie von Helga Goetze ist ab März erhältlich. Zu ihrem 100. Geburtstag liest er Abschnitte daraus am 12. März um 11 Uhr im Märkischen Museum Berlin.
Doch Helga Goetze ist unzufrieden, nur ist es ihr zu diesem Zeitpunkt nicht wirklich bewusst. Das Verhältnis zu ihrem Gatten ist liebevoll, Sexualität spielt jedoch keine Rolle. Bis auf das Kindermachen wird Sex ausgeklammert. Während der Silberhochzeitsreise nach Sizilien lernt sie dann Giovanni kennen, der sie – mit Billigung ihres Mannes – verführt und eine Eruption von Gefühlen auslöst, die Helga Goetze fortan durchs Leben tragen wie eine erotische Welle.
Zurück in Hamburg will sie nicht wieder in die alten Verhältnisse. Sie startet mit einer Bekanntschaftsanzeige in den damals populären St. Pauli Nachrichten eine ganze Kaskade von Männerbekanntschaften, berichtet 1973 freimütig und freundlich über ihre außerehelichen Sexualbegegnungen in einer Fernseh-Talkshow und verlässt schließlich im Alter von 53 Jahren Mann, Kinder und Haus, um in einer WG zu wohnen. Hier wird die freie Liebe gepredigt, Goetze verfasst „Fickpläne“, um bürgerliche Paarbildungen zu unterbinden und lernt schließlich die Kommune des österreichischen Künstlers Otto Muehl kennen.
Mehrere Male reist Goetze in den 1970er Jahren ins Burgenland auf den Friedrichshof, um bei der sogenannten „AAO Kommune“ durch therapeutische Selbstdarstellungen in Kontakt mit ihrer verschütteten Sexualität zu kommen und bürgerliche Vorstellungen von Besitz zu überwinden. Hier lernt sie auch das Malen. Doch die Kommunarden sind allesamt weit jünger als sie und grenzen sie aus. Otto Muehl selbst, der später wegen sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen eine mehrjährige Gefängnisstrafe absitzen wird, begreift Helga Goetze in ihren utopischen Ansprüchen instinktiv als Konkurrenz. Aus den beiden Aktivisten wird kein Dream-Team. Und auch mit ihrer Hamburger WG lassen sich ihre sexuellen Vorstellungen nicht realisieren.
Leben als Künstlerin und Aktivistin in Berlin
Goetze zieht weiter. Die Siebziger leben die Befreiung vom „Muff der 1000 Jahre“. Musik, Drogen, alternative Lebensformen, Theaterprojekte, selbstverwaltete Betriebe – Goetze geht nach Westberlin. Hier lernt sie den schwulen Filmemacher Rosa von Praunheim kennen und tritt in seinem Film „Rote Liebe“ auf. Hier startet sie auch ihre Auseinandersetzung mit Alice Schwarzer und deren 1977 gegründeten Emma, um deren Anerkennung Goetze sich zeitlebens bemüht. Hier beginnt sie ein Leben als Künstlerin und Aktivistin.
Zunächst wohnt sie in einer einfachen Einzimmeraltbauwohnung im Schatten der Mauer in der Dresdener Straße. Außenklo und Kohleheizung sind das Setting, in dem ihre ersten Bilder entstehen. Später werden daraus brillante Stickereien, in denen Goetze ihre gesellschaftlichen und sexualwissenschaftlichen Vorstellungen entwickelt. Sie nimmt ihre neue Einsamkeit und die bescheidenen Verhältnisse in Kauf, schließt sich phasenweise der Kreuzberger Hausbesetzerszene an und sucht Demonstrationen und andere Menschenaufläufe auf, um ihre Botschaft vom „Ficken“ unters Volk zu bringen.
So vollkommen sich das Berliner Leben nun von dem der siebenfachen Mutter und Hausfrau im Hamburger Vorort unterscheidet, so erstaunlich ist es doch, dass Goetze Zeit ihres Lebens den Kontakt zu ihren Kindern gehalten hat, sogar zu ihrem geschiedenen Mann Curt.
Anfang der 1980er Jahre zieht Helga Goetze nach Charlottenburg um. Dort findet sie eine kleine Wohnung in der Schlüterstraße 70, wo heute das „Verborgene Museum“ beheimatet ist, das sich vergessenen Künstlerinnen widmet. Sie gründet in ihrer Wohnung die Geni(t)ale Universität, eine Ein-Frau-Institution, die sich quer durch alle Bereiche engagiert.
Die Geni(t)ale Universität
Einmal in der Woche versammelt Goetze dort auch einen Kreis von Freunden und Verehrern um sich. Ihnen liest sie aus ihren Gedichten vor und verkündet Ideen von der sexuellen Befreiung. Solche Abende haben den Charakter von Perfomances, Goetze nennt sie „Märchenstunden“. Noch heute existiert der Verein „Metropole Mutterstadt“, der sich um ihr künstlerisches Vermächtnis kümmert und sich aus dieser Fangemeinde speist. Und Goetze schreibt. Sie schreibt an alle und jeden, mischt sich überall ein. Nervt oft. So fordert sie in einer ihrer Eingaben an den Bundespräsidenten, dass es zu überdenken sei, warum in der deutschen Hymne nur von „brüderlich“ und nicht von „schwesterlich“ gesungen werde.
Die wirkungsvollste Aktivität der Geni(t)alen Universität jedoch ist ihr täglicher Auftritt an der Gedächtniskirche. Hier sieht sie sich als Missionarin ihrer Sache, und zieht dazu selbstbestickte Mützen oder Westen an. Oft bringt sie Plakate und eine „Friedensfahne“ mit. Sie alle sind verziert mit mystisch-sexuellen Symbolen und provokativen Texten. Statt jedoch ruhig im Schatten der Kirche zu sitzen, provoziert sie die Vorbeilaufenden oft mit Sprüchen wie: „Wichst euch einen! Ihr habt sowieso keine Chance!“ Oder: „Je dämlicher das Volk, desto besser für den Staat!“
Was wie ein spontaner Auftritt wirkt, war wohlkalkulierte Aktion. In ihrem schriftlichen Nachlass, der über 30.000 Schreibmaschinenseiten und zahllose Gedichte umfasst und sich heute im feministischen Archiv FFBIZ in Berlin befindet, berichtet Helga Goetze nicht nur detailliert über ihre täglichen Begegnungen am Kudamm, sondern es finden sich eine ganze Reihe von „Kampfsprüchen“, die sie sich für ihre Aktionen zurechtgelegt hat.
Auch ein Blick auf ihre Bilder und Stickereien, die 2020 von ihren Kindern dem Berliner Stadtmuseum gestiftet wurden, zeigt, wie kalkuliert Goetze in der Öffentlichkeit agiert hat. Jedes ihrer Bilder ist sorgfältig dokumentiert und oft durch erläuternde Texte begleitet.
Helga Goetze hat die Kunst gebraucht, um ihre gesellschaftspolitische Mission vom Ficken als Friedensarbeit zu formulieren. Ihre Performances, ihre Gedichtrezitationen, die Filme, die Bilder, der tägliche Auftritt am Kudamm – all das kommt in ihrer Person zum Ausdruck. Goetze das Gesamtkunstwerk? Man muss sie erlebt haben.
Für ihre Mission hat sie einen Preis gezahlt. Sie, die für das linksalternative Milieu der siebziger und achtziger Jahre eigentlich eine Generation zu alt war, hat ihre gesicherte bürgerliche Existenz aufgegeben, vor allem aber ihre Familie, und sie hat es auch den eigenen Kindern nicht immer leicht gemacht, zu ihrer Mutter zu stehen. Am 29. Januar 2008 starb Helga Goetze in einem Altersheim bei Hamburg.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert