Serie: Wie weiter, Germans? (2): Die Zukunft bleibt unsichtbar
Schulz moralisiert, Merkel verzieht keine Miene. Welche Geschichte unserer Zeit erzählen die Volksparteien – und was bleibt außen vor?
Die Frau gehört zu einer Gruppe, die daherkommt wie ein heruntergekommener Kegelclub. In der Hand hat sie einen Flyer mit dem Titel „Merkel begrüßen“. Damit machen AfD und andere im Osten gegen die Bundeskanzlerin mobil, der sie Verrat an Deutschland unterstellen. Eine halbe Stunde später gesellt sich die Gruppe im hinteren Teil des ordentlich sanierten Marktplatzes von Finsterwalde zu den Gleichgesinnten. Sie sind gekommen, um Merkels Rede nicht zuzuhören.
Ich schon. Die Frage lautet: Welche Geschichte unserer Zeit erzählen die deutschen Volksparteien im Wahlkampf? Wie und worüber redet die CDU-Bundeskanzlerin, wie und worüber der SPD-Spitzenkandidat Martin Schulz?
Die Geschichte der Union ist simpel: Wir hatten zwölf gute Jahre dank „Frau Dr. Merkel“. Hauptargument: Arbeitslosigkeit halbiert. Jetzt fragt der Wähler: Ja, aber da gibt es doch neuerdings diese Globalisierung? Und da sagt Merkel: Ganz ruhig, die bewältige ich für euch. Und die Breitbandkabel werden demnächst auch verlegt. Wenn ihr euch mal ein bisschen anstrengt, wäre’s noch schöner.
Einfache Sätze, keine Anspielungen, keine Pointen
Die Union ist die Lieblingspartei der unpolitischen Mehrheit und so redet Merkel auch. Einfache Sätze, keine Zitate, keine politischen, literarischen oder gar philosophischen Referenzen, keine Aphorismen. Und weil sie Merkel ist, auch keine Witzchen, keine Pointen, keine spontanen Bemerkungen, außer übers schlechte Wetter (sie freut sich, dass alle trotzdem hier sind).
Die Flüchtlingslage von 2015 sieht bei ihr so aus, dass „Menschen in größter Not Schutz und Zuflucht gesucht haben“ und man auch dank des Bürgerengagements „ein gutes Bild von Deutschland abgegeben“ habe. Aber, dass sich das „nicht wiederholen darf“. Sie konzediert zurückliegende Versäumnisse der Politik (nicht ihre eigenen), die zu der Lage geführt hätten und angegangen werden sollen. Also Bekämpfung der „Ursachen in den Herkunftsländern“, die Flüchtlingslager nahe Syrien „besser ausstatten“, Afrika „eine Perspektive geben“. Ihr Schlüsselwort heißt „Steuerung“, also das Gegenteil von Kontrollverlust, der Hauptchiffre der Merkel-Kritiker.

Wie weiter, Germans? Über die entscheidenden Zukunftsfragen wird weder vor noch nach der Wahl gesprochen: Wir stellen sie. In der neuen Ausgabe von taz.FUTURZWEI, Magazin für Zukunft und Politik.
Vorn drängt sich eine Flüchtlingsfamilie an die Absperrung. Mann, Frau, zwei Kinder. „Merkel gut“, ruft der Mann immer wieder. Die Kinder klatschen. Hinten johlen und pfeifen die von der AfD agitierten Merkel-Begrüßer die ganze Rede durch und schwenken ihre „Schnauze voll“- und „Bananenrepublik“-Schilder. Komplett ignoriert von der Bundeskanzlerin.
Merkel redet nicht zu denen, die sie hassen. Wenn sie gefragt wird, sagt sie lapidar, das gehöre zur Demokratie. Sie redet auch nicht zu den CDU-Mitgliedern in den ersten Reihen, sie redet, das hat Merkel-Experte Robin Alexander mal fein beobachtet, zur dritten Gruppe ihrer Veranstaltungen, den Leuten, mit deren Hilfe sie eine neue Mehrheit jenseits der alten Lager gewonnen hat und wieder gewinnen will. Denen sagt sie, dass sie dazugehören. Es geht bei ihr fast immer um Einschließen, fast nie um Ausschließen. Sie will nicht gegen ressentimentgetriebene Kleinbürger und nicht mal gegen Nazis mobilisieren.
Nicht aufwühlen, sondern narkotisieren
Wozu dadurch die Stimmen von halbschwankenden Ostbürgern riskieren? Die politische und ästhetische Widerlichkeit des Geschehens bringt ihr die Sympathie der Linksliberalen automatisch. Die greift sie selbstverständlich auch nicht an, denn Teile davon gehören ja zu ihrer Mehrheit. Überhaupt ist ihr Erfolgsprinzip nicht aufwühlen, sondern narkotisieren. Anders als die 08/15-Konkurrenz sucht sie nicht den üblichen Deppen oder Feind, gegen den man die Reihen schließt. Sie will sie ja offen halten. Die Konkurrenz kommt bei ihr fast nicht vor, den SPD-Spitzenkandidaten erwähnt sie überhaupt nicht.
Er heißt Martin Schulz und spricht an einem anderen Tag vor der Leipziger Nikolaikirche. Die Sonne scheint. Es riecht nach Bratwurst und Bier, also total sozialdemokratisch. Die SPD will die zunehmenden Ungleichheitseffekte der Globalisierung durch nationale Regulierung dämpfen, hier wegnehmen, dort hintun. Also Merkel von klassisch links schlagen. Die Alten sollen mehr kriegen, die Jungen soll mehr kriegen, die Ostler sollen mehr kriegen. Und die Frauen sowieso.
Schulz’ Hauptbeschäftigung besteht darin, den Leuten erst einmal das ganze Ausmaß der Ungerechtigkeit in diesem Land zu erklären, das acht der letzten zwölf Jahre von der SPD mitregiert wurde. Weshalb es dem Land ja weitgehend gut geht, wie auch er findet. Aber die Union hat trotzdem permanent Gerechtigkeit verhindert.
Schulz redet in Umgangssprache. Während Merkel auch mit ihrer Formelsprache Energie rauszieht, versucht Schulz, Energie gegen Merkel mit einer emphatischen Rhetorik aufzubauen. „Manno-manno-mann“, ruft er, wenn er den Leuten enthüllt, dass die allerungerechtesten Sachen von „Angela Merkel, persönlich“ angeordnet wurden. Oder es steckt einer ihrer „engsten Mitarbeiter“ dahinter.
Schulz bemüht sämtliche Evergreens des aufgeklärt-volksnahen SPD-Anpackers, von der Frauenkarte bis zum alten Jacket-Auszieh-Trick nach der Hälfte seiner Rede. Vor allem personalisiert er häufig – ganz im Gegensatz zu Merkel – und versucht mit seiner Aufsteigerbiografie im Nachkriegswestdeutschland zu punkten. Schließlich ist er der lebende Beweis, dass SPD-Politik mal auf der Höhe des gesellschaftlichen Bedarfs war.
Anders als Merkel greift Schulz die AfD inzwischen frontal an. Obwohl deren Wähler gar nicht da zu sein scheinen. Bis auf ein paar bruddelnde Biertrinker in Shorts. Er greift die „Manager“ der Automobilindustrie an, Trump sowieso, er will ein „starkes Europa“. Gleichzeitig spielt er die Militarismuskarte, indem er Merkel der „Aufrüstung“ anklagt. Merkel ungerecht, ich gerecht. Merkel Aufrüstung, ich Bildung. Er moralisiert und polarisiert. Sie niemals. Er gibt den Clown, sie verzieht keine Miene. Er sucht leicht verzweifelt das Trennende, sie fängt immer mit dem angeblich Gemeinsamen an. Er kriegt gern mal „eine Krise“. Sie bewältigt sie.
„Bei Schulz klingt Politik so, als ob das jeder könnte. Merkel begibt sich nie auf diese Ebene, sondern bleibt im Polit-System-Talk, allerdings mit einfachen Worten. Insofern gelingt ihr die Verbindung von Komplexitätseindruck und Vereinfachung“, sagt Hans-Jürgen Bucher, Professor für Medienwissenschaft an der Uni Trier.
Es ist Wahlkampf, es ist Show, es ist Strategie, es werden Zuhörer adressiert, die eher unpolitische Leben führen. Aber beide kriegen keinen Zugriff auf die neue gesellschaftliche Konfrontationsachse und die konservativen Bezugsprobleme der frustrierten, entfremdeten, wütenden Leute, die in Richtung Merkel „Hau ab“ brüllen, aber genauso Schulz, Özdemir und Lindner meinen. Merkels Schweigen macht sie nur noch wütender und Schulz’ Moralisieren („Die AfD ist eine Schande für Deutschland“) erst recht.
Der Klimawandel kommt nicht vor
Dabei ist das wirklich Erschütternde ja noch gar nicht erwähnt: Worüber sonst noch alles nicht oder nicht ernsthaft gesprochen wird. Klimawandel kommt weder bei Schulz noch bei Merkel vor. Der Zusammenhang mit den eskalierenden Problemen Völkerwanderung, Krieg, Hunger, die zunehmende Aggression fossiler Regime, das alles wird nicht thematisiert.
Wie das Geld zum Verteilen erwirtschaftet wird, also ökologische Modernisierung und Energiewende – nichts. Künstliche Intelligenz – nichts. Automatisierung, das große Arbeitsthema – nichts. Digitalisierung mit seinen vielfältigen Auswirkungen – nichts. Die gut gebildeten, jungen Prekären: Diese Gruppe Zukunftsträger jenseits von Tariflohn und Gewerkschaft kommt überhaupt nicht vor.
Beide Kandidaten kommen nicht hinaus über das Bild der unendlichen Gegenwart eines national funktionierenden Industriekapitalismus mit Festanstellung, Tarif und goldener Uhr zum 50-jährigen Arbeitsjubiläum – nur künftig mit flächendeckendem Breitbandkabelanschluss. Die Zukunft bleibt unsichtbar. Entweder weil sie keine im Angebot haben oder weil sie die Leute nicht damit verstören wollen.
Es wird schon dunkel auf dem Marktplatz von Finsterwalde, da geht ein Ruck durch Angela Merkel und die Reihe der grauen CDU-Männer neben ihr. Wie immer ertönt am Ende bei der CDU die deutsche Hymne und die Funktionäre stimmen ein. Plötzlich geht auch ein Ruck durch die hinteren Reihen. Die AfD-Leute beenden abrupt ihr Pfeifinferno und singen jetzt auch das Deutschlandlied.
Allerdings die erste Strophe.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Werben um Wechselwähler*innen
Grüne entdecken Gefahr von Links
Wahlverhalten junger Menschen
Misstrauensvotum gegen die Alten
Kanzler Olaf Scholz über Bundestagswahl
„Es darf keine Mehrheit von Union und AfD geben“
Donald Trump zu Ukraine
Trump bezeichnet Selenskyj als Diktator
Berlinale-Rückblick
Verleugnung der Gegenwart
Wahlarena und TV-Quadrell
Sind Bürger die besseren Journalisten?