Sergey Lagodinsky: Jetzt auch noch Mutter
Sergey Lagodinsky kam als Flüchtling nach Deutschland, machte als Bester seines Jahrgangs Abitur und will nun für die Grünen ins Europaparlament.
Dabei ist der 42-Jährige eigentlich kein Mann, der bei jeder Gelegenheit seinen Doktortitel herauskehrt. Aber dieser Anlass war es ihm wert. Migranten sind auch Leistungsträger, sollte das aussagen.
Dass der gebürtige Russe 1993 nach Deutschland kommen durfte, verdankte er einem Beschluss des runden Tischs in den letzten Monaten der DDR: Der hatte sich angesichts des Antisemitismus in der Sowjetunion dafür stark gemacht, dass Juden von dort zuerst in die DDR und danach ins vereinte Deutschland einwandern durften. Zwei Wochen vor seinem 18. Geburtstag landete Lagodinsky mit seinen Eltern als jüdischer Kontingentflüchtling in einem Flüchtlingsheim in Schleswig-Holstein.
Der Öffentlichkeit wurde der Mann, der sich am 9. November auf dem Bundesparteitag der Grünen um ein Mandat für das Europaparlament bewerben möchte, erstmals 2011 bekannt. Da trat er aus Protest gegen Thilo Sarrazin aus der SPD aus. Im selben Jahr bewarb er sich erstmals um den Vorsitz der heillos zerstrittenen Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Lagodinsky unterlag und ist seitdem Oppositionsführer in der Repräsentantenversammlung der Gemeinde.
Wenn er für die Heinrich Böll Stiftung mit politischen Bildungsveranstaltungen durchs Land tourt oder in Talkshows spricht, bedient er ein breites Themenspektrum. Das reicht von amerikanischer Politik unter Donald Trump über die Abschottung der EU-Außengrenzen bis hin zur Digitalisierung und ökologischen Problemen des Luftverkehrs.
Zum Nichtsstun verdammt
Dabei war der heute so Umtriebige, als er 1993 nach Deutschland kam, erst mal zum Nichtstun verdammt. Zwar hatte er ein – in Deutschland nicht anerkanntes – russisches Abitur in der Tasche und ein Schuljahr in den USA verlebt.
In Deutschland kam er aber wie viele Flüchtlinge über 16 Jahren, die nicht mehr unter die Schulpflicht fallen, erst einmal aufs Abstellgleis. „Es hieß, ich müsse acht bis neun Monate im Flüchtlingsheim auf einen Deutschkurs warten. Welche Wege mir danach offen stehen würden, sagte mir niemand. So eine lange Zeit Nichtstun erschien mir unvorstellbar“, erinnert sich Lagodinsky heute.
Er brachte sich damals selbst seine ersten deutschen Wörter bei und erklärte damit dem Direktor des nächstgelegenen Gymnasiums in gebrochenem Deutsch, dass er an seiner Schule lernen wolle. „Der Schulleiter sah, dass ich motiviert war, und sagte, ich soll es einfach versuchen. Dafür bin ich ihm heute noch dankbar.“
In der Schule wurde Sergey Lagodinsky, wie er sagt, „ins kalte Wasser geworfen“. Gleich zu Beginn musste er Fontanes „Effi Briest“ auf Deutsch lesen. Für hoch gebildete Zuwanderer gab es damals genauso wenig wie heute maßgeschneiderte Quereinstiegsangebote in Schulen. „Meine Mitbewohner im Flüchtlingsheim, die noch schulpflichtig waren, landeten in der Hauptschule und lernten dort Schulstoff, den sie in Russland schon vier Jahre zuvor gelernt hatten“, sagt er. Für den Bewerber fürs Europaparlament steht darum fest, dass es mehr Sozialarbeit in Flüchtlingsheimen geben muss, die passende Angebote für die Neuankömmlinge finden.
Eineinhalb Jahre nach seiner Einschulung legte der 19-Jährige das Abitur als Bester seines Jahrgangs ab. „Damit gehörte ich zu der Zielgruppe, die die Schule für ein Stipendium für die Studienstiftung des deutschen Volkes vorschlagen konnte. Meine Schule schlug andere Mitschüler vor, aber bei mir kam niemand von allein auf die Idee. Ich musste erst nachhaken.“
Jura in Harvard
Die Studienstiftung, bei der er schließlich angenommen wurde, ermöglichte dem Studenten Zugang zu Netzwerken, die für seine spätere Karriere wichtig waren. Einen Teil seiner Ausbildung konnte er in Harvard absolvieren. Gegen den Willen seiner Eltern entschied sich Lagodinsky zum Jurastudium. „Als Flüchtling habe ich erlebt, wie wichtig es ist, seine Rechte zu kennen, und sie sich zu erkämpfen. Darum wollte ich Anwalt werden.“ Sein zweites juristisches Staatsexamen brachte ihn 2003 nach Berlin, wo er erkannte, dass Politik und Publizistik ihn noch mehr anziehen als eine Anwaltskanzlei.
Europapolitik habe viel mit der Arbeit zu tun, die er bei der Heinrich Böll Stiftung macht, sagt Lagodinsky. Was wäre, wenn Ungarn nicht nur die Soros-Stiftung, sondern auch die parteinahen Stiftungen aus anderen EU-Staaten aus dem Land drängt, die dort die Zivilgesellschaft unterstützen? „Das können wir nur politisch ausschließen. Und wir müssen Strukturen schaffen, die das von vornherein unmöglich machen. Wir haben in Europa zwar eine Währungs- und eine Verteidigungsunion“, sagt er. „Aber wir brauchen eine Rechtsstaatsunion.“
Da sehe er auch in Deutschland Defizite: „Wir kritisieren zu Recht, wie das in Polen mit der Wahl der Richter gelaufen ist. Aber auch bei uns werden bestimmte Richter immer noch durchs Parlament gewählt. Da haben wir ein strukturelles Problem.“ Rechtsstaatspolitik solle sein Thema in Brüssel werden, sagt Lagodinsky.
Anders als in anderen Bundesländern haben die Grünen in Berlin keine Empfehlung für einen einzelnen Kandidaten für die Liste zum Europaparlament ausgesprochen. Neben Lagodinsky wollen sich Anna Cavazzini von der Bundesarbeitsgemeinschaft Europa, der Flüchtlingspolitiker Erik Marquardt und die Entwicklungspolitikerin Hannah Neumann um einen Platz auf der Bundesliste bewerben.
Berlins bisheriger grüner Europaabgeordneter, der Verkehrsexperte Michael Cramer, tritt mit 68 Jahren nicht erneut an. Gut möglich, dass die Hauptstadtgrünen mehrere Kandidaten auf sichere Listenplätze bekommen. Mit Ausnahme der Abgeordneten aus den baltischen Staaten wäre Sergey Lagodinsky der erste europäische Parlamentarier mit Wurzeln in den GUS-Staaten. „Und wahrscheinlich bin ich dann auch der Erste, der durch ein Flüchtlingsheim gegangen ist.“
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