Senat beendet Arbeitsmarktprogramm: Stadtteilprojekte verlieren Mitarbeiter
Stadtteilprojekte wie der Kinderbauernhof in Kirchdorf bangen um ihre Existenz. Der Grund: Die Sozialbehörde beendet das Programm „Tagwerk“ für Langzeitarbeitslose.
Zurzeit betreibt der Träger „Alraune“ in Steilshoop noch mit 47 Tagwerkplätzen und zehn Ausbildungsplätzen für junge Mütter ein Stadtteilcafé, eine Fahrradstation, ein Tierhaus, das Inklusionscafe „Jetzt“ und eine Einrichtung mit handwerklichen Helfern für den örtlichen Verkehrsübungsplatz.
All diese Projekte stünden spätestens am 1. April vor dem Aus, berichtet Alraune-Geschäftsführerin Petra Lafferentz. Die Abteilung Arbeitsmarktpolitik der Sozialbehörde habe das mitgeteilt.
Tagwerk-Plätze haben auch Stadtteilprojekte in Dulsberg, Wilhelmsburg und Kirchdorf-Süd, insgesamt kosten alle Zuverdienstprojekte Hamburg 1,5 Millionen Euro pro Jahr. Der Träger „Passage“ betreibt zum Beispiel eine Kooperation mit dem örtlichen Kinderbauernhof und den inklusive Stadtteiltreff „Laurenz Janssen Haus“ sowie die Wilhelmsburger Tafel.
„Wir als Träger haben schon gekürzt, wo zu kürzen ging“, sagt Passage-Geschäftsführerin Gudrun Stefaniak. Jetzt würde es an die Substanz gehen und wahlweise eines oder auch alle drei Projekte existenziell treffen. „Das kann keiner, der Wilhelmsburg, die sozialen Projekte und Problemlagen kennt, ernsthaft wollen.“
Mit Tagwerk können Bezieher von Hartz IV bis zu 17 Stunden die Woche arbeiten und sich die Zeit frei und flexibel einteilen.
Der Zuverdienst beträgt maximal 98 Euro im Monat und wird nicht angerechnet.
In Steilshoop im Tierhaus können sie zum Beispiel Tiere füttern und beobachten. In der Fahrradwerkstatt alte Räder aufbereiten.
Auch in Steilshoop hatte Passage bis 2012 die Textilprojekte „Samt und Seide“ und „Wäsche auf Rädern“ nach 25 Jahren schließen müssen.
Die Großsiedlung Steilshoop wurde von 1969 bis 1975 gebaut und wurde in den 1990er-Jahren wegen gravierender sozialer Probleme zum Sanierungs- und Stadtentwicklungsgebiet.
In jüngster Zeit haben sich die Sozialdaten wieder verschlechtert, etwa ein Viertel der Bevölkerung bezieht Hartz IV, fast 60 Prozent des Gebietes Steilshoop haben einen niedrigen Sozialstatus. „Die Bevölkerung hier ist arm, deshalb brauchen wir weiter Beschäftigungsprojekte“, sagt Petra Lafferentz.
Die Sozialbehörde vertritt den Standpunkt, Arbeitsmarktpolitik sei nicht dafür da, Träger und deren Projekte zu finanzieren. Auch sei das Tagewerk-Programm gar nicht abgeschafft, sondern ersetzt. Es sei von Hamburg „nur übergangsweise eingesetzt worden“, als in 2015/16 die 1-Euro-Jobs wegfielen, erklärt Sprecher Marcel Schweitzer.
Doch mit dem Start des neuen Bundesprogramms „Soziale Teilhabe“ im ersten Quartal 2017, das von Hamburg mitfinanziert werde und sozialversicherungspflichtige Beschäftigung für 291 Arbeitslose vorsieht, habe Hamburg „ein neues Instrument zur Verfügung, um diese Zielgruppe adäquat zu fördern“. Deshalb habe man schon 2017 die Tagwerk-Plätze auf rund 250 reduziert. „Eine weitere Reduzierung der Tagwerk-Plätze ist nun in 2018 vorgesehen.“
„Ersatzlose Streichung“
Petra Lafferentz hält diese Darstellung für irreführend. Denn das Programm „soziale Teilhabe“ habe andere Zielgruppen und Fördervoraussetzungen. „Das Platzkontingent ist längst ausgeschöpft, alle Plätze sind belegt.“ Außerdem sei auch dieses Programm im Dezember zu Ende. „Wenn nun die Behörde weitere Tagwerk-Plätze abbaut, handelt es sich um eine ersatzlose Streichung, die eine Schließung von Einrichtungen nach sich ziehen muss.“
Immerhin hat man in der SPD-Fraktion ein offenes Ohr. „Wir sind in Gesprächen mit der Behörde und Trägervertretern, um mitzuhelfen und Wege auszuloten, damit verschiedene unverzichtbare Stadtteilprojekte erhalten bleiben können“, sagt der arbeitsmarktpolitische Sprecher Jens Schwieger. Es steht ja immerhin auch im rot-grünen Arbeitsmarktprogramm, dass auch in Zukunft arbeitsmarktpolitische Maßnahmen wie Tagwerk „im Rahmen des Möglichen mit Bedarfen und Potenzialen von Quartieren verknüpft werden“ sollten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Sport in Zeiten des Nahost-Kriegs
Die unheimliche Reise eines Basketballklubs