Selma Alaçam über interkulturelle Kunst: „Erziehung wirkt wie eine Tätowierung“
Die deutsch-türkische Künstlerin Selma Alaçam macht aus besprühten Kelim-Teppichen Emanzipationskunst – und arbeitet nebenbei weibliche Identitätskonflikte auf.
taz: Frau Alaçam, Sie verfremden oft Kelim-Teppiche. Was bedeuten sie Ihnen?
Selma Alaçam: Kelims sind Dekorationsobjekte, die einer vorislamischen Tradition entstammen und bis heute in der Türkei hergestellt werden. Und da ich in meiner Kunst zwei Welten zusammenbringen möchte – die türkische meines Vaters und die deutsche meiner Mutter – arbeite ich gern mit Objekten und Fotos aus beiden Kulturen. Ich versuche sie zu transformieren und eine dritte Welt zu erschaffen. Einen Ort, an dem ich mich wohlfühle.
Was bedeuten die abstrakten Muster der Kelims?
1980 in Mannheim geboren, hat an der Karlsruher Staatlichen Akademie der Bildenden Künste bei Silvia Bächli studiert und arbeitet vor allem zu Fragen der Identität. Ausgestellt hat sie unter anderem in der Kunsthalle Baden-Baden sowie in Innsbruck, Luzern und Oldenburg.
Es sind – oft von der Mutter an die Tochter weitergegebene – traditionelle Muster, von denen jedes für eine Emotion der Weberin steht. Oft stecken Sehnsüchte darin, der Wunsch zu heiraten oder die Angst, den falschen Mann zugesprochen zu bekommen. Aber ganz entschlüsseln kann man sie nicht. Ein kleines Geheimnis bleibt.
Sie haben die Teppiche mit schwarzen Lack übersprüht. Darf man das?
Als ich die Arbeiten hergestellt habe, hieß es schon gelegentlich: „Wie kannst du so etwas Schönes zerstören?“ Aber mir ging es darum, den kunsthandwerklichen Kelim in ein Kunstwerk zu verwandeln, indem ich mich in die junge, fremdbestimmte Weberin hineinversetze.
Geht es auch um Emanzipation?
Ja, natürlich! In meiner Kunst arbeite ich insbesondere weibliche Erfahrungen auf – meine eigenen und solche, die mir zugetragen wurden.
Welche eigenen Erfahrungen? Sollten Sie auch verheiratet werden?
Nein, aber es gab in meiner Jugend schon so ein Gespräch. Es war nichts Ernstes, aber als ich in die Pubertät kam, fühlte sich mein Vater verpflichtet, mich zu fragen, ob er mich bei der Männersuche unterstützen darf. Und dieser Gedanke steckt natürlich auch in meinen Arbeiten: dass es bis heute junge Frauen gibt, die ihren Partner nicht selbst bestimmen können.
Sie sind anders sozialisiert. Wie verlief Ihr deutsch-türkisches Familienleben in Mannheim?
Es war nicht einfach, denn ich habe mich teilweise heimatlos gefühlt: In Deutschland war ich diejenige, die streng erzogen wurde und mehr Regeln beachteten musste als meine deutschen Freundinnen. Und in der Türkei war ich die „Deutschländerin“. Zudem entstamme ich einer eher konservativen muslimischen Familie, in der es üblich ist, dass sich die Frauen hauptsächlich um die häuslichen Belange kümmern. Nach meinen Bedürfnissen wurde selten gefragt, und ich habe lange versucht, dem zu entsprechen, was von mir erwartet wurde.
Selma Alaçam - True Clolors": Eröffnung: 9.9., 19 Uhr, Galerie Postel, Rutschbahn 2, Hamburg. Laufzeit bis 29.10.
Sie waren oft in der Türkei?
In den Sommerferien. In den letzten Jahren aber nicht mehr. Es wurde mir zu mühsam, in eine Rolle gezwungen zu werden und meine Identität zu verleugnen.
Was haben diese Erfahrungen mit den Popsongs zu tun, die Sie auf die Kelims sprühten?
Es sind Liedzeilen von Fiona Apple, Depeche Mode, Johnny Cash und José Gonzales, die ich in der Pubertät gehört habe. Sie handeln von Liebe, Sehnsucht, Identität – Themen, die auch die gleichaltrige Weberin des Kelims bewegt haben müssen. Dieser Link hat mich interessiert, denn das Leben zwischen den Kulturen war lange ein Identitätskonflikt für mich.
Sie zeigen auch ein Hochzeitsvideo Ihrer Eltern, auf dem sich Ihr Vater dem Kuss der Mutter verweigert. Wieso?
Im Grunde wusste meine Mutter, die für die Heirat zum Islam konvertiert ist, dass ein Muslim nicht vor der Kamera geküsst werden will. Aber sie dachte wohl, sie könnte ihn in diesem romantischen Moment rumkriegen.
Lachen Ihre Eltern heute über dieses Video?
Meine Eltern kommen regelmäßig zu den Vernissagen und können inzwischen beide darüber lachen. Mein Vater war anfangs skeptisch, als er mitbekam, dass ich auch mit intimem Material arbeite. Aber inzwischen hat er dazugelernt. Er hat sich als türkischer Mann in Deutschland ja auch emanzipiert.
Und wie finden Ihre Eltern das Video „Körperprojektionen“, wo Sie nackt von osmanischen Mustern überdeckt werden?
Meine Mutter liebt diese Arbeiten und findet sie sehr ästhetisch. Mein Vater neigt dazu, daran vorbeizugehen und sie auszublenden.
Wofür stehen die osmanischen Fliesenmuster?
Ich wollte zeigen, dass jede Form der Erziehung – ob es eine traditionell muslimische oder eine deutsche ist – Dinge in die Haut, den Körper, den Verstand, die Seele einschreibt. Sogar wenn wir sie ablehnen, prägen sie uns wie eine Tätowierung. Und zwar schützend und überwuchernd zugleich; das ist ambivalent.
In einem anderen Video stempeln Sie sich den deutschen Bundesadler ins Gesicht.
Das „Abstempeln“ – zum Beispiel als Deutsche oder Türkin – geschieht ja normalerweise von außen. In diesem Video habe ich mich selbst ermächtigt, indem ich meine Identität scheinbar selbst wähle und sage: Ich bin Deutsche – und zack ins Gesicht damit. Aber durch die Überlagerung der Stempelabdrücke verschwindet das Gesicht, sodass der Vorgang ad absurdum geführt wird.
Wie sehen Sie sich heute: als Deutsche oder als Türkin?
Diese Kategorien spielen keine Rolle mehr. Es gab sicherlich Phasen, in denen ich mich gegen das Türkischsein gewehrt habe, weil ich es als junge Frau anstrengend fand zu verstehen, welche Mechanismen da greifen. Heute belastet mich das nicht mehr. Ich finde es eher gut, dass ich so die Möglichkeit hatte, meinen Horizont zu erweitern und in eine Selbstreflexion zu kommen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Haftbefehl gegen Netanjahu
Begründeter Verdacht für Kriegsverbrechen