Selenski reist in die USA: Von der Front direkt nach Washington

Der Besuch des ukrainischen Präsidenten in Washington hat vor allem Symbolkraft. Selenski bittet dort die US-Amerikaner*innen um weitere Hilfen.

Präsident Selenskyj zwischen Soldaten

Präsident Selenski: Am 20. Dezember noch in Bachmut, am 21. in Washington Foto: Ukrainian Presidential Press Service/reuters

Zum ersten Mal seit Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine vor zehn Monaten verlässt der Präsident der Ukraine, Wolodomir Selenski, sein Heimatland. In Washington will er an diesem Mittwoch US-Präsident Joe Biden und verschiedene Mitglieder des US-Sicherheitskabinetts treffen und sich anschließend direkt an den US-Kongress wenden. Zuletzt hatte Selenski im März per Videobotschaft zum US-Kongress gesprochen.

Eine solche Reise ist vor allem ein Symbol – nichts, was Selenski dort sagt oder hört, wäre nicht auch über Videokonferenzen oder Telefon zu besprechen gewesen, wie stets in den vergangenen Monaten seit Kriegsbeginn. Die Reise könnte Entspannung signalisieren: Seht her, der ukrainische Präsident versteckt sich nicht mehr im Bunker, er reist in die Welt, wie es Staatschefs eben mitunter tun.

Aber dafür ist die Lage in der Ukraine angesichts der massiven russischen Angriffe auf die zivile Infrastruktur viel zu dramatisch. Wenn Selenski trotz der großen Sicherheitsimplikationen die Reise in die USA antritt, dann deshalb, weil sowohl er als auch US-Präsident Biden das für dringlich halten.

Biden, die De­mo­kra­t*in­nen und immerhin noch die Mehrzahl der republikanischen Kongressmitglieder stehen hinter der Unterstützung der Ukraine. Ein neues militärisches und finanzielles Hilfspaket steht kurz vor der Verabschiedung. Aber Anfang Januar konstituiert sich der neue Kongress mit republikanischer Mehrheit im Repräsentantenhaus, und in den Reihen der Re­pu­bli­ka­ne­r*in­nen gibt es inzwischen etliche Stimmen, die auf sofortige Einstellung oder zumindest Reduzierung der Hilfe drängen.

Kyjiw hofft auf Raketen mit größerer Reichweite

Dafür gäbe es zwar vermutlich keine Mehrheit. Aber Biden muss damit rechnen, dass der zukünftige Sprecher des Repräsentantenhauses, Kevin McCarthy, recht massive Forderungen stellen dürfte, um in der Zukunft ausreichend republikanische Stimmen für neue Hilfspakete zu garantieren. Eine persönlicher Auftritt Selenskis zur US-Primetime mit all der emotionalen Solidarität, die das mit sich bringt, kann da nicht schaden.

Selenski seinerseits weiß, dass die Ukraine bis auf Weiteres von der Unterstützung der USA abhängt – militärisch und finanziell. Sollte Washington wegfallen oder stark reduzieren, kann er sich nicht darauf verlassen, dass die europäischen Nato-Verbündeten das auch nur annähernd kompensieren würden oder könnten. Und: Mit dem Patriot-Luftabwehrraketen, die die USA jetzt erstmals liefern, kann womöglich der Schutz ukrainischer Infrastruktur verbessert werden.

Um aber ein Offensivmomentum im Kampfverlauf in der Ostukraine zu bekommen, will Selenski mehr: Er möchte Raketen mit größerer Reichweite, um die bis auf russisches Territorium zurückgelagerten Angriffsstationen der russischen Armee attackieren zu können. Das haben ihm die USA – und alle anderen Unterstützerstaaten – bislang verweigert. Vermutlich werden sie das auch weiterhin tun, aber der Versuch, die Verbündeten in dieser Frage umzustimmen, ist ihm offenbar eine Auslandsreise wert.

Dazu kommt ein letzter Aspekt: Selenski hat in seinen unzähligen Videoauftritten vor Parlamenten verbündeter Staaten, der UN-Generalversammlung und unzähligen anderen Foren die Bildsprache des Angegriffenen, der aus dem Krieg heraus kommuniziert, perfektioniert – aber auch abgenutzt. Nach zehn Monaten scheint es offenbar an der Zeit für eine Erweiterung.

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Jahrgang 1965, seit 1994 in der taz-Auslandsredaktion. Spezialgebiete USA, Lateinamerika, Menschenrechte. 2000 bis 2012 Mitglied im Vorstand der taz-Genossenschaft, seit Juli 2023 im Moderationsteam des taz-Podcasts Bundestalk. In seiner Freizeit aktiv bei www.geschichte-hat-zukunft.org

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