Selbstmordanschlag von Stockholm: Die Tat des "netten jungen Mannes"

Der Attentäter war gut in der Schule, spielte Basketball und hatte viele Freunde. Die Ermittler stehen vor einem Rätsel.

"Er sagte nicht, wohin er ging", so der Vater. "Die ganze Familie ist schockiert." Ein Polizist untersucht den Tatort des Selbstmordattentats. Bild: rtr

STOCKHOLM taz | "Der Täter ist zu 98 Prozent identifiziert", teilten Sprecher des schwedischen Verfassungsschutzes SÄPO und der Staatsanwaltschaft am Montagmittag mit: "Jetzt konzentrieren wir uns auf die Frage, ob er allein gehandelt hat. Wir gehen davon aus, dass er Mithelfer hatte." Nicht zum eigentlichen Anschlagszeitpunkt, aber möglicherweise im Vorfeld, so die Ermittler.

Taimur Abdulwahab al-Abdali, ein Schwede mit irakischen Wurzeln, ist der offiziell zu 98 Prozent identifizierte Mann - nur die Identifizierung durch die Familie stand am Montag noch aus. Er hat am Samstag, einen Tag vor seinem 29. Geburtstag, das Selbstmordattentat in der Innenstadt von Stockholm verübt. Und er gibt denen, die ihn kannten, Rätsel auf.

"Der nette junge Mann, mit dem habe ich öfters geredet", so eine Nachbarin aus der südschwedischen Stadt Tranås, kam unmittelbar nach dem Kuwaitkrieg 1992 mit seinen Eltern und seiner älteren Schwester nach Schweden. Als "tüchtig in der Schule und ein guter Junge" charakterisiert ihn ein ehemaliger Klassenlehrer. Er schien schnell in der neuen Umgebung Fuß zu fassen, sprach bald ausgezeichnet Schwedisch, spielte im Verein Basketball und hatte einen breiten Freundeskreis. 2001 legte er ein Abitur mit guten Noten ab. Im gleichen Jahr zog er in das nördlich von London gelegene Luton und begann an der dortigen Universität Bedfordshire eine Ausbildung zum Physiotherapeuten.

Hat sich Abdulwahab dort radikalisiert? Laut einem Bericht des britischen Geheimdiensts von 2008 ist Luton eine Islamistenhochburg. Die Attentäter vom 7. Juli 2005 trafen sich am Tag der Anschläge am Bahnhof von Luton und fuhren gemeinsam nach London. Ihr Anführer stand in Kontakt mit einem Mann aus Luton, der enge Verbindungen zu einer Al-Qaida-Zelle in Afghanistan hatte.

Auch die Universität in Luton war zunächst mit den Anschlägen vom Juli 2005 in London in Verbindung gebracht worden, bei denen 56 Menschen starben. Das erwies sich später jedoch als falsch. "Wir würden selbstverständlich mit den Behörden kooperieren, falls diesmal eine Verbindung nachgewiesen wird", sagte der Vizekanzler der Universität. Scotland Yard durchsuchte noch in der Nacht zum Montag ein Reihenhaus in Luton. Es sei bisher niemand verhaftet worden, und man habe auch keine gefährlichen Materialien gefunden, sagte ein Polizeisprecher.

Warum Schweden?

Warum aber sprengte sich Abdulwahab in Schweden in die Luft? Obwohl weiterhin polizeilich in Tranås gemeldet, hielt er sich seit seinem Umzug nach England offensichtlich nur noch jeweils kurzfristig und besuchsweise in Schweden auf. Abdulwahab heiratete 2004. Seine Ehefrau stammt aus Schweden und hat familiäre Wurzeln im Nahen Osten. Sie zog zu ihm nach Luton. Das Paar bekam 2006 die erste, 2008 eine zweite Tochter. Vor einigen Monaten wurde ein Sohn geboren.

Anfang 2010 platzierte Abdulwahab eine Internetkontaktanzeige auf dem Portal muslima.com. Er suchte eine zweite Frau: "Ich will eine große Familie. Meine Frau ist einverstanden." Eine praktizierende Sunnitin solle die Frau sein, die sich "nach Jannah sehnt". Jannah, das Paradies. In ein arabisches Land wolle er ziehen und sich dort niederlassen, schrieb Abdulwahab weiter. Er sei kein reicher Mann, könne aber eine Familie versorgen.

In Schweden versteuert er 2008 umgerechnet 6.000 Euro Jahreseinkommen, 2009 kein Einkommen. Laut britischen Medien soll er zuletzt Teppiche verkauft haben.

Auf seiner Facebook-Seite beschrieb sich Abdulwahab als "Muslim und stolz darauf" - aber er liebe auch sein Apple-iPad. Links von seinem inzwischen vom Internet genommenen Facebook-Profil führen auf islamistische Propagandaseiten mit Märtyrervideos.

Vor etwa vier Wochen kam Abdulwahab nach Schweden und besuchte seine Eltern in Tranås. Ohne Frau und Kinder. Er kaufte über eine Internetannoncenseite den Audi, der am Samstag in Stockholm explodierte. Zwischendurch sei er immer mal wieder weg, aber am Freitagabend zu Hause gewesen, erzählt sein Vater. Am Samstagmorgen sei er dann nach Stockholm gefahren. "Er sagte nicht, wohin er ging", so der Vater. "Die ganze Familie ist schockiert."

Man gehe davon aus, dass der Sprengsatz am Samstagnachmittag kurz vor 17 Uhr vorzeitig explodiert sei, sagt Oberstaatsanwalt Thomas Lindstrand. Abdulwahab sei möglicherweise auf dem Weg in ein Kaufhaus oder zum Hauptbahnhof gewesen. Die technische Untersuchung sei noch nicht abgeschlossen. Doch müsse man davon ausgehen, dass der gut vorbereitete, wenn auch "explosionsmäßig missglückte" Anschlag umfassenden Schaden hätte verursachen können.

In Schweden gilt seit zehn Wochen erhöhte Terrorbereitschaft. Am 1. Oktober hatte der Verfassungsschutz SÄPO erstmals in der schwedischen Nachkriegsgeschichte das nationale "Bedrohungsszenario" auf Ziffer drei ihrer Skala von eins bis fünf erhöht: "Erhöhtes Bedrohungsbild, Risiko für einen Angriff." Der Warnung lagen nach offiziellen Angaben mittlerweile überholte Informationen ohne Bezug zur Stockholm-Tat zugrunde. Doch die erhöhte Einstufung gilt auch jetzt noch. Der schwedische Verfassungsschutz sieht drei Quellen für die Bedrohung der Sicherheit. Erstens: Al-Qaida oder andere in Afghanistan oder Pakistan aktive Terrorgruppen. Zweitens: Schweden, die eine Terrorausbildung in Pakistan oder Somalia absolviert haben. Drittens: Terroristen aus Nordafrika.

Abdulwahab sei in diesem Überwachungsraster nicht hängengeblieben, und er sei schwedischen Sicherheitsdiensten bislang überhaupt nicht aufgefallen, sagte SÄPO-Abteilungsleiter Anders Thornberg: "Wir können ja nicht Facebook komplett abscannen." Auch wenn man da etwas entdeckt hätte, "zweifelhafte Ansichten zu haben ist ja nicht ungesetzlich", ergänzt Malena Rembe, Chefanalytikern der SÄPO-Antiterroreinheit.

Das Bekennerschreiben hatte der Attentäter zehn Minuten vor der Explosion von seinem Mobiltelefon aus abgeschickt. Einen Hinweis auf einen konkreten Anschlagsort enthielt es nicht. Und es wurde sowieso erst später entdeckt. "Wir erhalten ständig eine Flut solcher Nachrichten", meint Thornberg vom schwedischen Verfassungsschutz.

Doch der Bezug auf den Karikaturisten Lars Vilks in einer angehängten Audiobotschaft könnte einen Hinweis darauf geben, dass Abdulwahab vom irakischen Al-Qaida-Arm zumindest inspiriert wurde, so das auf die Islamismusanalyse spezialisierte US-Unternehmen Site. Der im Mai von US-Soldaten getötete irakische Al-Qaida-Anführer Abu Omar al-Bagdadi hatte im September 2007 angekündigt, wegen der Veröffentlichung von kritischen Zeichnungen des Propheten durch Vilks Rache an Schweden üben zu wollen. Auf diese Drohung habe sich Abdulwahab bezogen, so Site. Vollkommen untypisch für Gruppen im Umfeld von al-Qaida sei allerdings, eine Nachricht vor einem Attentat abzuschicken.

Wann und wo Abdulwahab möglicherweise eine Terrorausbildung erhalten hat, ist noch nicht vollständig geklärt; er selbst sprach in seiner Abschiedsbotschaft von einer Reise in den Nahen Osten "für den Dschihad".

Die nahezu durchgängige Reaktion in den schwedischen Medien ist nun: ein ernst zu nehmender Vorfall, aber kein Grund zur Panik. In den letzten zwei Jahrzehnten habe es in Schweden 14 Tote bei Mordanschlägen mit neonazistischem Hintergrund gegeben, und zwei Heckenschützen mit rassistischen Motiven hätten monatelang Furcht und Schrecken verbreitet, konstatiert die sozialdemokratische Zeitung Dagens Arena - aber bis zum "politischen Selbstmord vom Wochenende" keinen Mord mit islamistischem Vorzeichen.

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