Selbstmord des Terrorverdächtigen: „Fiasko!“, „Skandal!“, „Versagen!“
Linken-Chefin Kipping wirft der sächsischen Regierung totales Versagen vor. Die Grünen-Politikerin Künast fordert einen Untersuchungsausschuss.
Der als hochgefährlich eingestufte 22-jährige Syrer hatte sich am Mittwoch in seiner Zelle mit seinem T-Shirt erhängt. Laut Verfassungsschutz hatte der als Flüchtling eingereiste Islamist einen Sprengstoffanschlag auf einen Berliner Flughafen geplant.
Parteiübergreifend wurde Kritik daran laut, dass die Verantwortlichen nicht erkannt hatten, dass er sich das Leben nehmen könnte. Er sei in Haft wie ein „Kleinkrimineller“ behandelt worden, kritisierte selbst Sachsens Vize-Ministerpräsident Martin Dulig (SPD). Justizminister Sebastian Gemkow (CDU) beteuerte hingegen, man habe alles unternommen, um einen Suizid zu verhindern.
Kipping verlangte, Gemkow müsse zurücktreten. „Der Justizminister wiegelt ab und flüchtet sich in absurdeste Erklärungsversuche, anstatt einfach mal die Verantwortung zu übernehmen – und zu gehen“, sagte Kipping der dpa. Sie sagte, der Selbstmord verhindere die so wichtige Aufklärung über die möglichen Hintermänner des vermeintlichen Attentäters und seine Pläne und Ziele. „Die CDU-Sachsen redet immer von Recht und Ordnung, ist aber in Wahrheit ein Sicherheitsrisiko für das ganze Land.“
„Absoluter Skandal“
Die Pannenserie im Fall des syrischen Terrorverdächtigen sollte in Sachsen nach Ansicht von Politikwissenschaftler Hajo Funke auch politische Konsequenzen haben. „Da muss ein Besen her, der das alles aufräumt“, sagte Funke der Deutschen Presse-Agentur. Auf die Frage, wer dieser „Besen“ sein könnte, antwortete er: „In erster Linie der Innenausschuss des sächsischen Landtags.“ Es sei aber auch Aufgabe der Bundes-CDU, Druck auf die sächsischen Parteikollegen auszuüben, damit sich die Zustände im Freistaat änderten. Funke warf Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU) vor, er habe sich in diesem „absoluten Skandal“ bislang weggeduckt.
Die Grünen-Politikerin Künast sagte, es müsse eine unabhängige Aufklärung geben. „Es geht nicht, dass das die Landesregierung und die sächsische Justiz allein bestimmen“, sagte sie in der Berliner Zeitung. Aus ihrer Sicht gebe es nur zwei Möglichkeiten, um dies zu gewährleisten: „Entweder man setzt eine unabhängige Untersuchungskommission ein – oder gleich einen Untersuchungsausschuss.“
Der CDU-Innenexperte Wolfgang Bosbach klagte ebenso über mangelnde Sorgfalt bei der Bewachung in der Leipziger JVA. „Angesichts der Bedeutung des Tatvorwurfs und der gesamten Umstände wäre eine lückenlose Überwachung des Häftlings nicht unverhältnismäßig gewesen“, sagte er der Passauer Neuen Presse.
Kriminologe ist „entsetzt“
Der Kriminologe Christian Pfeiffer aus Niedersachsen äußerte sich „entsetzt“ über die Zustände bei Polizei und Justiz in Sachsen. Zu Al-Bakr sagte er der Neuen Presse: „Eigentlich wollte er einen Heldentod sterben. So einer ist hochgradig selbstmordgefährdet.“ Dies hätte klar erkannt werden müssen.
Der Vize-Chef der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Jörg Radek, forderte eine permanente Überwachung mutmaßlicher Selbstmordattentäter durch Videokameras oder Sitzwachen in Haftanstalten. „Nicht nur die Polizei, alle Sicherheitsbehörden müssen sich stärker auf die Denkweise eines Selbstmordattentäters einstellen“, sagte Radek der „Rheinischen Post“. „Wir müssen verinnerlichen, dass dieser Tätertypus sich selbst aufgegeben hat.“
Al-Bakr wurde offenbar nach seiner Überstellung an die Justizvollzugsanstalt Leipzig nicht mehr von den Strafverfolgungsbehörden vernommen. Das berichten die Zeitungen des RedaktionsNetzwerks Deutschland unter Berufung auf Sicherheitskreise. Demnach durften die sächsischen Strafverfolger den Syrer nicht mehr vernehmen, nachdem der Generalbundesanwalt das Verfahren an sich gezogen hatte. Die Bundesanwaltschaft selbst gab demnach allerdings kein Verhör mehr in Auftrag.
67 Häftlinge nahmen sich 2015 das Leben
Die Zahl der Suizide in deutschen Gefängnissen ist in den vergangenen zwei Jahren gestiegen: Während die Bundesländer 2013 noch 48 Selbsttötungen in Justizvollzugsanstalten zählten, waren es im folgenden Jahr bereits 55 und im Jahr 2015 bundesweit 67 Fälle. Wie die Zeitungen der Funke Mediengruppe unter Berufung auf die Bundesarbeitsgruppe Suizidprävention im Justizvollzug berichteten, nahmen sich in den Jahren zwischen 2000 und 2015 insgesamt 1.189 Häftlinge das Leben. Das höchste Suizidrisiko besteht demnach in den ersten 14 Tagen einer Untersuchungshaft.
Generell sei die Suizidhäufigkeit im Verhältnis zur Zahl der Inhaftierten in den vergangenen Jahren allerdings zurückgegangen, sagte Katharina Bennefeld-Kersten, Leiterin der Bundesarbeitsgruppe, den Funke-Zeitungen. Ein Grund seien erfolgreiche Präventionsprogramme der Länder: „Die Bundesländer haben in den vergangenen Jahren viel in Suizid-Prävention im Justizvollzug investiert.“ Sachsen sei in diesem Punkt sogar Vorreiter.
Mit Blick auf den Suizid des terrorverdächtigen Syrers Dschaber al-Bakr am Mittwochabend in der JVA Leipzig warnte Bennefeld-Kersten vor überzogenen Erwartungen an die Möglichkeiten, eine Selbsttötung zu verhindern: „Wenn jemand es darauf anlegt, dann schafft er es auch.“ Ähnlich äußerte sich Bennefeld-Kersten in einem Interview mit der taz. Die Bundesarbeitsgruppe Suizidprävention im Justizvollzug ist Teil des Nationalen Suizidpräventionsprogramms. Die Arbeitsgruppe besteht aus Mitarbeitern des Strafvollzugs und Experten.
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