Sektenkonferenz in Manchester: Traurige Heldengeschichten

Vermeintliche Selbstoptimierung und Menschenhandel: Opfer spiritueller Gruppen erzählen von ihren Erfahrungen und der Dynamik von Manipulation.

Anhängerin der Hare Krishna sitzen nebeneinander und singen und trommeln

Manche Sekten vermitteln Geborgenheit und Harmonie wie Hare Krishna. Doch das ist ein Trugbild Foto: reuters

MANCHFESTER taz | Bevor sich die Türen zum Konferenzsaal im Holiday-Inn-Hotel in Manchester öffnen, begegne ich einem Mann mit blendend weißen Zähnen, bei dem man eher an Luxusmode denkt als an das Leid eines Sektenaussteigers. Es ist Hoyt Richards, ein ehemaliges männliches Supermodel, der beispielsweise für Gianni Versace und Burberry arbeitete. Wie andere Opfer spiritueller Gruppen besucht er vergangenes Wochenende die Jahrestagung der International Cultic Studies Association (ICSA).

Bei der Konferenz beschäftigen sich die Teilnehmer an drei Tagen in 91 Sitzungen mit Themen wie Gangs, Sexualität und Menschenhandel bis zu Wunderglaube und Narzissmus; die diskutierten Gruppen reichen von der in Indien entstandenen TM-Bewegung (Transzendentale Meditation) bis zu Aum Shinrikyo, die einen Giftgasanschlag in Tokio verübten.

Es geht weniger darum, spezielle „neue Religionsbewegungen“, wie Sekten auch oft neutraler genannt werden, zu verdammen, sondern die Dynamik von Manipulation und Ausbeutung besser zu verstehen. ICSA führt keine schwarze Liste, sondern ein Info-Archiv. Kultdynamik existiert genauso beim Netzwerk-Marketing für Duftöle oder in manchen Tantra-Schulen, unter Buddhisten ebenso wie in politischen Randgruppen.

In den 80ern stand Richards vor der Kamera der Starfotografen, heute verfolgt er eine andere Mission. Damals stand der blonde Strahlemann auch unter der absoluten Kontrolle einer UFO-Weltuntergangssekte namens Eternal Values (Ewige Werte). Er gab ihr sein Vermögen, befreite sich schließlich und verklagte die Gruppe bis zu deren Auflösung.

Auch Sekten sind da – transparent oder mit Spionen

Heute warnt der 57-Jährige selbst vor Verführung und Hirnwäsche, von Esoterik bis IS, und oft im Duo mit dem prominenten Sektenkenner Steve Hassan. Der ist ebenfalls anwesend und sagt, bevor wir den Raum betreten: „Wir sind an einem historischen Punkt, wo alte Ordnungen zerbrechen und wir offener sind denn je für Menschen, die uns Lösungen versprechen.“

Der zweite, den man neben dem Ex-Model nicht automatisch auf einer Anti-Sekten-Veranstaltung vermutet hätte, ist ein Mann in langem Leinengewand und einsamer Hinterkopf-Strähne: Anuttama Dasa, Kommunikationschef von Hare Krishna. Er kommt seit 20 Jahren zur ICSA-Konferenz, „um Gruppendynamiken zu verstehen und Missbrauch in meiner eigenen Gemeinschaft zu minimieren“, wie er behauptet.

Sektenbeauftragte Schiesser: „Der Eso-Sektor ist ein riesiger unkontrollierter Markt.“

Im Jahr 2000 gab es eine 400-Millionen-Dollar-Klage von Betroffenen wegen Kindesmissbrauchs in den Internaten der Hindu-Sekte, die sich seitdem reformiert hat. Nicht alle Teilnehmer sind von der Anwesenheit des Abgesandten begeistert. „Aber immerhin ist das gut gemeint und transparenter als Scientology, die manchmal ihre Spione schicken“, sagt Steve Eichel, Sexualtherapeut aus Delaware und ICSA-Vorsitzender.

Er weiß, wie verletzlich bis paranoid viele der tief geschädigten Besucher sind, von denen manche nicht mal ein Namensschild tragen. „Regel Nummer eins: Passt auf euch auf“, gibt er ihnen zum Auftakt des Kongresses mit auf den Weg.

Gurus, Fitnesstrainer, Coaches

Dieses Jahr wird er von der University of Salford ausgerichtet. Viele der Redner sind Dozenten, manche Aktivisten oder Betroffene – oder alles zusammen. Praktische Hilfe gab es schon vor dem Start des Kongresses: ein Tagesworkshop für Teilnehmer und ihre Angehörigen, die selber in „high-control groups“ waren – ein besserer Begriff als das Wort „cult“, das eher Assoziationen mit Charles Manson hervorruft. Eichel überlegt sogar, seine Organisation demnächst umzubenennen.

„Die meisten problematischen Gruppen kommen harmlos daher und können sich um Heiler scharen, um ein Fitnessangebot, einen Coach“ sagt die Sektenbeauftragte Ulrike Schiesser, die aus Österreich angereist ist. „Der Eso-Sektor ist ein riesiger unkontrollierter Markt. Gefährlich wird es, wenn keine Kritik an Lehrern oder Kursleitern mehr möglich ist.“

Am Nachmittag des ersten Tages hält Hollywood Einzug. Cecilia Peck, Tochter von Filmstar Gregory Peck, dreht einen Dokumentarfilm über Frauen unter Zwangseinfluss und filmt Schauspielerin Naomi Gibson aus Los Angeles, die zum ersten Mal über ihre Zeit in der Sekte NXIVM spricht.

Deren Gründer Keith Raniere wurde im diesjährigen Juni in einem spektakulären Fall in den USA verurteilt, weil er Frauen wie Sklavinnen hielt, die sich mit seinen Initialen brandmarken ließen. „Unsere Hirne sind mit seiner Philosophie gezeichnet“, sagt Gibson. „Es ist eine unsichtbare Narbe, die nie verschwindet.“

Aufgeben für den Neustart

Der Raum ist überfüllt. Gibson – ­sch­mal, dunkelhaarig, manchmal in Tränen – erzählt auch von ihrer traumatischen Kindheit: Sie wuchs bei der Sekte „Children of God“ (Kinder Gottes) auf und wurde dort als Fünfjährige vergewaltigt. Ihre Familie zerbrach daran. Alle stehen am Ende auf und klatschen für sie, die Betroffenheit ist spürbar. Ex-Model Richards, der seine eigene Dokuserie plant, dankt ihr für ihren Mut: „Mach weiter. Dir wird es wieder gutgehen.“

Trauma, Kontrolle, Zwang, Verführung, Selbstaufgabe, Abhängigkeit: Alle psychologisch und auch juristisch relevanten Aspekte einer Sekten-Situation werden in den drei Tagen beleuchtet. Und immer mitfühlend, wie der Schweizer Psychotherapeut Adrian Oertli beim Mittagessen feststellt. Er ist zum dritten Mal dabei.

Kritikfähigkeit und individuelles Denken sollte an Schulen so wichtig sein wie Sexualkunde, fordern Experten

„Es ist sehr berührend, auf andere zu treffen, die bereit sind, ihr ganzes Umfeld zu verlieren, um sich selbst treu zu sein.“ Oertli war früher in einer linksradikalen Gruppe aktiv. Er ist gleichzeitig Helfer wie Betroffener und sagt, er habe sich noch nie so geborgen gefühlt wie hier.

Berührend sind auch die Geschichten einer Gruppe von vier jungen Erwachsenen, die alle als Kinder und Jugendliche in einer christlichen Sekte waren. Eine wurde kurz nach dem Ausstieg Mutter und wusste nicht, wie sie ihren kleinen Sohn außer mit Schlägen disziplinieren sollte. „Ich hatte nichts anderes gelernt.“ Ihre Freundin erzählt, wie sie auf eine reguläre Schule kam und sich wie auf einem fernen Planeten fühlte, ohne kulturelle oder soziale Bezugspunkte. In den Pausen las sie die Bibel, einsam und verloren.

Hinterfrage alles, was dir vorgebetet wird

Auf einem anderen Panel im Nebenraum sprechen junge Aktivistinnen – eine ehemals Zeugen Jehovas, die andere Exclusive Brethren (Brüderbewegung) – über ihren Kampf gegen Unterdrückung in den eigenen Reihen.

Es sind Heldengeschichten mit traurigem Hintergrund. Sie machen wütend, und sie machen Mut. Das Fazit eines jeden ICSA-Vortrags, ob er von Genitalverstümmlung oder dem Guru der Beatles, Maharishi Mahesh Yogi, handelt, ist das Gleiche: Hinterfrage alles, was dir vorgebetet wird – als Prävention für politischen wie religiösen Extremismus.

Naomi Gibson, Schauspielerin: „Es ist eine unsichtbare Narbe, die nie verschwindet.“

Kritikfähigkeit und individuelles Denken sollte daher an Schulen so wichtig sein wie Sexualerziehung, fordern die Experten. Psychologie-Professor Jeremy Sherman aus Berkeley, einst Anführer in einer Hippie-Kommune, proklamiert: „Kult-Verhalten und der Appetit darauf ist die wichtigste Forschung überhaupt.“

Am Ende der drei Tage steht Hoyt Richards auf der Hotelterrasse, dankbar dafür, dass niemand ihn belächelt oder hinterfragt hat, weil er jahrelang an einen Heilsbringer von einem anderen Planeten glaubte. Er ist sich sicherer denn je, dass jeder Mensch in eine Sekte geraten kann – ohne es zu merken. „Es ist ein großer Denkfehler, dass das nur Schwachen passiert, immer nur den anderen. Wir alle sind anfällig, wenn die richtigen Faktoren aufeinandertreffen. “

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