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■ Seine erste Neujahrsansprache hätte besser nicht sein könnenAbsolution für Gerhard Schröder

Mal wieder war niemand zufrieden. Die einen beklagten Schröders stierenden Blick, andere das schmucklose Ambiente (zuwenig Bücher!). Manche waren nun doch unerwartet betrübt, daß es nicht mehr der Dicke war (obwohl sie mit ihm auch nie zufrieden gewesen waren). Wer sein politisches Engagement unter Beweis stellen wollte, beklagte das Fehlen „inhaltlicher Botschaften“. Wer sich zugute halten darf (noch, Kollege Schwarz, noch!), das Ohr am Puls der Jugend zu haben, kritisierte Schröders plumpe Ranschmeiße an die Jugend. Wer wirklich jung war, guckte MTV. Ohne Ton.

Es ist immer wieder verblüffend, welche grandiosen Projektionen die Neujahrsansprache des Bundeskanzlers in uns allen heraufbeschwört. Da werden plötzlich aristokratische Stilbildung und gutbürgerliches comme il faut gleichzeitig eingefordert – ausgerechnet von einem, den wir wegen seiner Hemdsärmeligkeit zu unserem Anführer gewählt haben. Nun also soll er gelöst und locker (ja nicht in den Teleprompter glotzen!), inhaltsschwanger und zeitlos gültig zu der Nation über das Wohl der Nation sprechen – und dabei nicht unsere Sektlaune stören.

Längst sind wir gewiß, daß die guten Wünsche aufgezeichnet sind (was haben wir seinerzeit über die vertauschte Neujahrsansprache gelacht). Trotzdem hat uns selbst die Panne von 1987 nicht dazu zwingen können, die Entzauberung der Übung zuzulassen. Offensichtlich wollen wir es einmal im Jahr erhaben haben.

Dabei macht das Fernsehen selbst die wirklich erhabenen Gestalten der Weltgeschichte klein. Gewiß, manchmal gelingt ein tabakumwehtes Kamingespräch mit den elder statesmen der letzten Regierungsdekaden (wie oft haben wir in den letzten Wochen eigentlich Helmut Schmidt auf 3sat gesehen?). Der Papst an Ostern funktioniert stets zuverlässig, und auch die Lebensbeichte der Prinzessin Diana hatte ihre Wirkung. Aber das sind die Ausnahmen. Im Regelfall ist die Blamage unumgänglich. Man denke an Bill Clintons Videoaussage vor der Grand Jury oder die Tagesthemen-Kommentare von Sigmund Gottlieb. Das Fernsehen hat simple Gesetze: Wer frontal in die Kamera guckt, hat schon verloren.

ARD und ZDF wissen das, tun aber nichts dagegen. Ausgerechnet einem englischen Musiksender fiel nun die Aufgabe zu, die Neujahrsansprache erneut zu einem erhabenen Ereignis zu machen. Nur MTV bot dem Kanzler jenen ästethischen Rahmen, der seinem Tun die nötig Würde verleihen konnte: Im Videoclip ist Peinlichkeit Kunst. Klaudia Brunst

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