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Sei doch kein Indio!

Seit fünf Jahren ist der Bürgerkrieg in Guatemala offiziell vorbei. Die Rechtsgarantien des Friedensabkommens für die indigene Bevölkerungsmehrheit stehen bislang jedoch nur auf dem Papier

von SUE HERMENAU

Die Sonne geht auf und taucht den Atitlánsee in einen pastellfarbenen Nebel. Maria und ihre Schwestern stehen bis zu den Beinen im Wasser und schlagen eingeseifte Hemden auf Stein, immer wieder und wieder, bis die rostroten Flecken der frischen Kaffeebohnen nicht mehr zu sehen sind. Sie waschen die Hemden ihrer Männer, die Kleider ihrer Töchter, Hosen ihrer Söhne und ganz zum Schluss und etwas verschämt eigene Büstenhalter.

Nach der Kleiderwäsche legen sie den bunten Rock und die bestickte Bluse ab, Teil der Tracht ihres Dorfes San Pedro de la Laguna, und reiben sich Arme und Beine mit Lavasteinen ab, die zahlreich an der Wasseroberfläche schwimmen. Der Vulkansee liegt im Herzen Guatemalas; neben den Mayaruinen Tikal im Norden stellt er die touristische Hauptattraktion des kleinen Landes dar. Aldous Huxley soll ihn einmal als „schönsten See der Welt bezeichnet“ haben.

Während sich am Ufer auf der anderen Seite in dem kleinen Städtchen Panajachel junge Europäer in den Internetcafés und Cocktailbars tummeln, bringt Maria ihrem Mann das Mittagessen an den Arbeitsplatz: Bohnensuppe und Tortillas. José ist für das Trocknen der Kaffeebohnen zuständig, stündlich harkt er die in der Sonne liegende Ernte um und sammelt kleine Äste und Steinchen heraus.

Kleine Kinder kicken eine Blechdose auf der Straße herum, ein Reiter kommt auf einem mit Brennholz beladenen Pferd vorbei. Der unangenehme Geruch nach vergorenen Schalen von Kaffeebohnen, die zur späteren Verwendung als Dünger in großen Haufen gelagert werden, hängt in der Mittagsluft. Die wenigen Touristen, die sich hierher verirren, kommen, um den Vulkan zu besteigen oder um sich einige Lines des Kokains zu genehmigen, das auf den Berghängen von Indios angebaut wird.

Seit 1983 gibt es in San Pedro weder eine staatliche Polizei noch Militär, das den relativ öffentlich ausgelebten Drogengebrauch unterbinden könnte. Es scheint, als wäre die Zeit stehen geblieben. Vom 36-jährigen Bürgerkrieg ist hier nichts mehr festzustellen. Das Dorf wurde zu Kriegszeiten zwar von der Guerilla okkupiert, stellte jedoch nie ein Kampfgebiet dar. Die Pedranos sind ruhige Menschen.

Eine von der UNO finanzierte Wahrheitskommission hat 1998 Armee und Milizen für 93 Prozent der Verbrechen des Bürgerkriegs verantwortlich gemacht – die Hauptschuld trägt also nicht die Guerilla, wie es die guatemaltekische Regierung heute gern noch propagiert. Im Dezember 1999 wandte sich die Friedensnobelpreisträgerin und Menschenrechtlerin Rigoberta Menchú Tum mit dem Kommissionsbericht an den Nationalen Gerichtshof in Madrid, um acht Führer der früheren Militärdiktatur Guatemalas, vorneweg den jetzigen Parlamentsvorsitzenden Efraín Ríos Montt, wegen Staatsterror, Folter und Völkermord zu verklagen. Sie bezog sich dabei auf ein Massaker in der spanischen Botschaft in Guatemala-Stadt 1980 und auf Morde an Spaniern, die zwischen 1976 und 1983 stattgefunden haben. Ob die Klage angenommen wird, ist noch nicht entschieden. Aber auch in Guatemala werden, trotz korrupter Richter und Staatsanwälte, Klagen gegen Exgeneräle vorbereitet.

Geändert hat sich dadurch jedoch nichts: Ríos Montt regiert munter weiter, Maria wäscht immer noch die Unterhosen wohl situierter Latinos, und José hat den Kaffee, den er nun schon seit zehn Jahren produziert, noch nicht ein einziges Mal gekostet. Die Säcke werden sofort per Boot nach Panajachel gebracht und von dort aus in die Industrieländer exportiert.

Von den zwölf Millionen Einwohnern Guatemalas sind sechzig Prozent Abkömmlinge der alten Mayavölker, indígenas werden sie genannt: Eingeborene. Immer noch leben sie in extremer Armut, immer noch besitzen sie am wenigsten Land. Zwei Drittel des Bodens befinden sich in der Hand von Großgrundbesitzern, die lediglich zwei Prozent der Bevölkerung darstellen. Die großen Fincas an der Pazifikküste, die Baumwolle, Kaffee und Bananen anbauen, werden immer noch durch schlecht bezahlte Indios bewirtschaftet.

Der Großteil der Mayaindianer lebt nach wie vor abgeschottet in schwer zugänglichen Bergdörfern, pflanzt Zwiebeln, Mais und Kartoffeln an und verkauft sie an Markttagen in der nächstgrößeren Stadt. Auf dem Markt existieren drei Preise: einer für andere Indios, einer für Latinos und letztlich der Höchstpreis für weiße Touristen. Neben Hausarbeiten für die Latinos ist der Markt der einzige Berührungspunkt zwischen beiden Kulturen; manch clevere Hausfrau hat sich schon einige Wörter in Quiche oder Mam gemerkt, um beim Feilschen durch Sympathiepunkte eventuell einen geringeren Preis zu erzielen.

Ein Wochenlohn entspricht etwa dreißig Quezales, das sind zehn Mark. In der Stadt verdient man etwas besser; vor allem, wenn man im Tourismus arbeitet – doch Maria und José sprechen nur wenig Spanisch, und erst recht kein Englisch. Ihre Muttersprache ist Tzutujil, einer von insgesamt 23 alten Mayadialekten, die heute noch gesprochen werden. Lesen und Schreiben können sie nicht, es gibt auch keine Spanisch-Tzutujil-Wörterbücher, die ihnen beim Erlernen der Amtssprache weiterhelfen könnten. Niemand in Guatemala wundert sich darüber, dass die letzte Wahl 1999 nur vierzig Prozent Wahlbeteiligung aufwies; die Stimmzettel sind nach wie vor in Spanisch gehalten.

In den ländlichen Regionen ist die Einschulungsrate niedrig, häufig brechen die Kinder die Schule ab, weil sie arbeiten müssen. Die Lehrer sind meist schlecht ausgebildet und wenig motiviert. Lehrpläne und Unterrichtsmaterialien sind der Kultur der größtenteils mayasprachigen Kinder nicht angemessen. In den letzten Jahren bemühte sich die Regierung mit elf Alphabetisierungskampagnen um eine bessere Bildungsquote unter der verarmten Bevölkerung, bisher mit wenig Erfolg.

Zur Zeit läuft in Guatemala das Alphabetisierungsprojekt Únete („Beteilige dich“) an, bei dem ausgebildete Latinos ihre indigenen Landsleute zu Hause das Lesen, Schreiben und Rechnen lehren. Ein weiteres Projekt wird vom deutschen Entwicklungsministerium mit 13,5 Millionen Mark gefördert.

Doch noch immer verschwinden in Guatemala Menschen, werden umgebracht und verschleppt. Diese Vorgänge passieren heimlich, niemand nimmt wirklich von ihnen Notiz. Viel offensichtlicher dagegen ist der große Graben aus Vorurteilen, der zwischen Latinos, den Nachfahren der Spanier, und Indígenas bestehen blieb. Pablo, der selbst gemachte Ketten und Ohrringe an Touristen verkauft, meint: „Die Indios verhalten sich wie die Tiere. Ich wohne in der Nähe einer Trinkhalle, nachts kotzen und kacken die dort auf die Straße. Ich meine, Latinos kotzen vielleicht in der Öffentlichkeit, aber wir würden niemals kacken.“

Pablo ist 41 Jahre alt und ein typischer Patriot; am Krieg gibt er der Guerilla Schuld, die sein Haus in Unordnung brachten, als sie nach Esswaren suchten. Seine jüngeren Freunde stimmen ihm zu, Mario zum Beispiel habe einmal ein Dienstmädchen gehabt, das ihm seine Mahlzeit ohne Besteck servierte und darauf bestand, dass er mit den Händen essen sollte. Unter ihren Freunden befänden sich keine Indianer, man könne sich sowieso nicht verständigen, weil die ja bloß in ihrem „Kauderwelsch“ reden würden. Verhält sich jemand ungeschickt und tölpelhaft, heißt es: „Sei doch kein Indio!“

Ein älterer Mann sitzt vor seinem Lädchen auf einem Stuhl und blinzelt in die Sonne. Mauricio ist einer der wenigen Latinos in San Pedro, die mit den ersten Touristen gekommen sind und ihren indigenen Nachbarn nicht mit ausgesprochener Feindseligkeit gegenübertreten. Er hatte noch nie irgendwelche Probleme, im Gegenteil, er sei stolz auf die kulturelle und sprachliche Vielfalt des Dorfes. „Es kommt darauf an, wie man fühlt, nicht wie man spricht und aussieht.“

Maria und José sollen den Begriff „Indio“ definieren. Nach längerem Überlegen heißt es schüchtern: „Das ist einer, der nicht lesen kann und deswegen unter heißer Mittagssonne Baumwolle erntet.“ José fügt noch hinzu: „Oder Kaffee.“ Nebenan spielen zwei ihrer Kinder mit Pokémonkarten, die sie von Touristen geschenkt bekamen. Eines hat, in bunte Tücher gehüllt, die kleine Schwester auf dem Rücken. Die Fremden, die ins Dorf kommen, seien nett, sagen die Eltern. Auch die Latinos seien nett. Probleme gäbe es keine, mit niemandem. Dass beide für die Arbeit, die sie verrichten, mit Pfennigbeträgen bezahlt werden, finden sie normal. Auch, dass Josés Chef ein Latino ist, der neben der Kaffeeplantage noch ein Seegrundstück im Indianerdorf San Pedro besitzt. Sie sind es gewohnt, ungerecht behandelt zu werden. Das neue Selbstbewusstsein der Mayas, die inzwischen für ihre Rechte auf die Straße gehen und gegen ihre Mörder prozessieren, ist noch nicht bis zu ihnen vorgedrungen.

Francisco Villagrán de León, guatemaltekischer Botschafter in Berlin, geht provozierenden Fragen geschickt aus dem Weg. Sicherlich hätten die Indios in den vergangenen Jahren unter grausamen Qualen zu leiden gehabt, gibt er zu, doch nun sei ja das Friedensabkommen zwischen der Guerilla und der Regierung unterschrieben und alles würde sich zum Guten wenden. Das Abkommen stammt von 1996, es garantiert der indigenen Bevölkerung das Recht auf Schulbildung, juristischen Beistand oder die Anerkennung ihrer Sprachen. Von einer Umsetzung kann bislang nicht die Rede sein.

Ein Friedensprozess sei eben ein langer Weg, der sich über Jahrzehnte hinziehen könne und nicht zu überstürzen sei, so de León. Immerhin sei die Akzeptanz indigener Politiker in den letzten Jahren gestiegen, so wählten mehrere Städte Bürgermeister mit indianischer Abstammung, und die Kulturministerin Otilia Lux de Cotí weist Indios in ihrem Stammbaum auf. Auf den Parlamentsvorsitzenden und erwiesenermaßen vielfachen Kriegsverbrecher Ríos Montt angesprochen, der im März zudem wegen Fälschung verurteilt wurde, antwortet de León, dieser sei bereits belangt worden, indem man ihm die Immunität aberkannte. Davon, dass Ríos Montt direkt nach dem Urteilsspruch die Parlamentssatzung änderte, um sein Amt auch ohne Immunität ausüben zu können, erwähnt der Botschafter nichts. Schließlich ist doch alles in Ordnung.

SUE HERMENAU, 20, hat in Guatemala ein halbes Jahr lang für internationale Hilfsorganisationen gearbeitet. Sie lebt in Berlin

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