Schwulenberatung Berlin: „Sex kann man überall haben“
Marco Pulver von der Berliner Schwulenberatung erklärt, warum ein Coming-out mit zunehmendem Alter immer schwieriger wird.
taz am Wochenende: Herr Pulver, gibt es eigentlich ein ‚normales Alter‘ für ein Coming-out als schwuler Mann?
Marco Pulver: Nein, das gibt es nicht. Wir haben bei uns mehrere Coming-out-Gruppen mit ganz verschiedenen Altersstufen.
Braucht man heute überhaupt noch ein Coming-out, also ein bewusstes Öffentlichmachen der eigenen sexuellen Präferenz?
Ja, denn das Coming-out ist für die meisten LSBTI* immer noch ein zentrales Ereignis.
Ist ein Coming-out im vorangeschrittenen Alter schwieriger?
Ja, auf jeden Fall. Es ist viel leichter, wenn man jünger ist – und erst recht, wenn man ein Elternhaus hat, in dem Homosexualität etwas Selbstverständliches ist. Wenn man aber so aufwächst, dass man aufgrund seiner sexuellen Orientierung stets Angst hat, sich zu offenbaren, dann kommen im Laufe des Lebens immer mehr Menschen hinzu, vor denen man etwas verheimlicht.
Das Coming-out zieht sich immer länger hin, weil der Druck wächst?
Genau. Bei anderen ist es so, dass sie gar nicht so richtig mitbekommen haben, dass sie ein sexuelles Interesse am eigenen Geschlecht haben.
arbeitet seit 2003 bei der Schwulenberatung im Netzwerk Anders Altern. Pulver ist Mitglied im Landesseniorenbeirat Berlin und Dozent für Erziehungswissenschaften.
Kann das denn sein?
Ja, ich glaube ihnen das. Es war für sie eben nicht wirklich relevant oder ihnen einfach nicht bewusst. Das Heterosexuelle ist ja erst mal das, was alle machen. Manche entdecken ihr Begehren dann erst in einer bestimmten Situation oder mit einem bestimmten Mann. Für manche ergibt sich das erst im Laufe ihres Lebens, dann ist es gar nicht mehr so einfach, sein Schwulsein zu leben.
Warum?
Häufig lernt man sich ja über Sexualität kennen. In Bars und Discos, da geht es um sexuelle Attraktivität. Es gibt wenige Möglichkeiten für ältere schwule Männer, einander kennenzulernen, wenn sie nicht besonders sexuell aktiv sind. Und Männer, die aus der heterosexuellen Welt kommen, sind meistens auch traditioneller, was den Umgang mit Sexualität angeht – für sie ist zum Beispiel die Idee, mit Fremden Sex zu haben, eher ungewöhnlich.
Die Frage ist also einmal: Wie dockt man in der schwulen Welt an? Und andererseits: Wie gehe ich mit meinen bisherigen Bindungen um?
Ja, das ist ein anderer Punkt. Ich habe hier Beratungen mit Familien, bei denen sich der Mann geoutet hat und sein Leben in der bisherigen Form nicht weiterführen will. Meistens ist ausschlaggebend, dass man jemanden kennengelernt hat, weil man sich dann sicherer fühlt. Wenn das nicht der Fall ist, ist es noch einmal schwieriger, sich aus dem Bisherigen zu lösen.
Aus Angst, alleine zu sein?
Ja, denn man hat sich ja etwas aufgebaut. Viele haben Angst, dass man wieder von vorne anfängt oder gar nichts mehr hat, einsam ist. Und wenn man Kinder hat … Oft denken die Männer dann: Ich warte, bis die Kinder aus der Schule sind und ihr eigenes Leben beginnen können.
Die Pflicht ist getan.
Ja, und jetzt kann ich mein Leben leben. Aber die Frau ist dann zu diesem Zeitpunkt großen Ängsten ausgesetzt – weshalb sich die Kinder meistens auf ihre Seite stellen und fragen: „Wie kannst du unsere Mutter allein lassen?“ Dazu kommt, dass die Kinder sagen: „Du hast uns unser ganzes Leben lang etwas vorgespielt. Wir kennen dich gar nicht mehr.“ Es kann passieren, dass sie sich total von dem Vater distanzieren.
Was raten Sie dann?
In einem Beratungsgespräch kann es nur darum gehen, ein Verständnis für die Situation des jeweils anderen aufzubauen. Der Vater hat ja in der Regel nicht deshalb etwas „vorgespielt“, weil ihm die Familie egal gewesen wäre.
Sondern im Gegenteil.
Ja, aber die Situation bleibt meistens trotzdem dramatisch. Das Vertrauensverhältnis zwischen allen Beteiligten ist extrem gestört. Weshalb es auch eher selten ist, dass man alle gemeinsam an einen Tisch bekommt.
Sind das die Gründe, warum es immer noch so viele Familienväter gibt, die sich nicht outen?
Ja, das sind Hürden, die vielen zu hoch erscheinen. Außerdem: Die Beziehung zu der eigenen Frau ist ja auch von Vertrautheit und einer Art von Liebe geprägt. Man hat Angst, dass man so etwas nicht mehr findet.
Ist diese Angst berechtigt?
Eine schwule Bindung aufzubauen ist schon schwieriger. Denn es treffen Männer aufeinander, von denen manche eher möglichst viele Männer kennenlernen wollen. Es gibt daher auch andere Beziehungsmodelle und häufig einen anderen Umgang mit sexueller Treue – das ist für Männer, die aus der Hetero-Welt kommen, eher schwierig.
Es läuft nichts auf Schienen.
Das stimmt. Ich kenne aber auch Paare, die monogam leben – überhaupt beobachte ich viele sehr enge Beziehungen, gerade bei Älteren. Es gibt aber auch noch mehr Ängste: Kann ich mir eine völlig neue Identität aufbauen? Mit entsprechendem Freundeskreis? Denn den verliert man meist auch.
Wird man denn umgekehrt in der schwulen Szene mit offenen Armen aufgenommen?
Das kommt auch auf das Alter an – und auf wen man steht. Wenn man nur junge Männer mag, kann das schwierig werden.
Aber stimmt diese Gräuelerzählung überhaupt noch, dass man als älterer schwuler Mann quasi tot ist?
Kommt darauf an, was man sucht. Sex kann man überall haben, auch als älterer Mann. Aber wenn es um ein wirkliches Kennenlernen geht, ist es eher schwieriger.
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