Schwergewichtsboxen in der Krise: Nur 15 Runden Ruhm
Als seriös galt das Profiboxen der Männer noch nie. Aber derzeit ist es besonders chaotisch. Viele wollen Weltmeister sein. Niemand ist es wirklich.
Die Meldung dürfte zumindest etwas verfrüht gewesen sein. Am 3. Dezember, so stand es vergangene Woche in etlichen Zeitungen, erhalte der Kölner Profiboxer Mahmoud Charr in Manchester die Chance, gegen den Engländer Tyson Fury zu boxen. Der war bislang – oder ist? – Weltmeister im Schwergewicht. Charr hätte, 90 Jahre nachdem Max Schmeling den WM-Titel in New York verloren hatte, ganz groß rauskommen können.
Verfrüht, vielleicht sogar falsch, aber die Charr-Meldung offenbart doch das heillose Chaos, das derzeit im Profischwergewichtsboxen der Männer herrscht. Und dass es gibt, obwohl doch mit dem Engländer Tyson Fury ein Boxer existiert, der noch amtierende Weltmeister in zumindest einem als wichtig geltenden Profiverband ist, dem WBC.
Warum sollte also einer wie Mahmoud Charr eine Chance bekommen? Er selbst sagt: „Es gibt kein größeres Kino für England als Fury gegen Charr, zwei amtierende Champions.“ Mahmoud Charr wurde nämlich 2017, als er sich noch Manuel Charr nannte, WBA-Weltmeister im Schwergewicht, und er hat den Titel nicht verloren, zumindest nicht im Ring. Tyson Fury hat seine Titel auch nicht verloren, auch nicht im Ring. Fury hatte zwischendurch seinen Rücktritt verkündet, Charr wurde der Titel von der WBA aberkannt, weil er ihn nicht fristgerecht verteidigt hatte.
Deswegen, es wird immer komplizierter, ist der Ukrainer Oleksandr Ussyk seit 2021 Schwergewichtsweltmeister der WBA. Und der Engländer Daniel Dubois ist seit 2022 Schwergewichtsweltmeister – der WBA. Wow. Dubois nennt sich „Weltmeister (regulär)“, Ussyk hingegen, der sich den Titel von Anthony Joshua holte, nennt sich „Weltmeister (super)“ oder auch „Superchampion“. Ein solcher Superweltmeister ist mehr wert als ein einfacher Weltmeister, weil er die Titel mehrerer Verbände erkämpft hat.
Es ließe sich zwar von noch mehr Verwirrung im Profiboxen berichten, etwa von der Frage, worin denn der Unterschied zwischen einem Interkontinentalmeister und einem Weltmeister bestehen könnte, aber das Wichtigste ist ja immer noch, wer von den ganzen Titelträgern und -anwärtern der wirklich Beste ist.
Viele potenzielle Weltmeister
Als mögliche Anwärter in einem Sport, der durch Muhammad Ali oder die Klitschko-Brüder früher einmal halbwegs übersichtlich war, gelten: Tyson Fury, 34, der die wichtigsten Kämpfe der vergangenen Jahre gewonnen hat. Oleksandr Usyk, 35, der trotz Ukrainekrieg zuletzt mit zumindest einem sensationellen Kampf den Titel holte. Der Engländer Anthony Joshua, 32, der zuletzt verlor, aber durch Siege über Wladimir Klitschko und Alexander Powetkin seine Klasse bewiesen hat. Und der Amerikaner Deontay Wilder, 36, der einmal WBC-Champ war und 2018 gegen Tyson Fury ein Unentschieden erkämpfte, freilich auch zweimal unterlag.
Wer soll da der Beste sein? Fragen wir doch Tyson Fury. „Big Joe Joyce ist der zweitbeste Schwergewichtler der Welt, hinter mir“, hat Fury jüngst verkündet. Dieser Joe Joyce aus England hat sich am vergangenen Wochenende durch einen überzeugenden K.-o.-Sieg über Joseph Parker die, noch so ein lustiger Titel, WBO-Interim-Schwergewichts-WM geholt. Freundlich formuliert gehört der 37-Jährige zur erweiterten Weltspitze, und schaut man auf sein Alter, ist mit noch weniger Entwicklung zu rechnen als bei Fury, der ja letztlich Joyce doch nichts zutraut: „Er würde in zwölf Runden keinen einzigen Schlag gegen mich landen“, führte Fury aus. „Ich glaube nicht einmal, dass er mich treffen könnte, wenn er eine Handvoll Reis nach mir wirft.“
Tyson Fury kann sich die öffentliche Demütigung seiner Gegner erlauben. Über den von ihm gerade aus dem Hut gezauberten Joe Joyce sagt er: „Ich glaube, er schlägt Anthony Joshua.“ Ohne Begründung. „Ich denke, er schlägt den Mittelgewichtler“, womit Fury den zuletzt furios boxenden Oleksandr Usyk meint. „Er könnte ein Problem mit Deontay Wilders Geschwindigkeit und Kraft haben.“
Wo bleibt Charr?
Wo bleibt bei dieser komplizierten Gemengelage der deutsche Boxer Mahmoud Charr, geboren im Libanon, aufgewachsen in Berlin und in Essen, seit 2021 mit deutscher Staatsbürgerschaft und nach eigenem Verständnis immer noch, irgendwie zumindest, WBA-Weltmeister?
Mahmoud Charr will unbedingt gegen Fury boxen, und weil der eigentlich zurückgetretene Fury in der vergangenen Woche dem möglichen Comebackgegner Anthony Joshua angeblich definitiv abgesagt hatte, meldete sich Charr zu Wort. „Fury, du bist derselbe Shit wie Anthony Joshua. Ein Mann ist ein Mann. Wenn du sagst, Joshua ist raus, ist er raus.“
Tatsächlich hatte Fury inmitten all seiner vielen Äußerungen auch einmal gesagt, dass ein Kampf gegen Charr denkbar wäre. So wie er auch mal Joshua einen Kampf in Aussicht stellt, um ihn dann wieder abzusagen – obwohl Joshua, der in denkbar schlechter Verhandlungsposition ist, sämtliche Forderungen des Fury-Lagers, was Börse, Termin und Ort angeht, akzeptiert hat.
Schaut und hört man sich Mahmoud Charrs Wortmeldung genau an, die er in Tyson Furys Richtung adressiert hat, merkt man jedoch, dass er sich selbst nicht auf Augenhöhe mit Fury sieht. Charr, der doch 2017 Weltmeister wurde, erzählt in dem Video, von Andy Warhol habe er gelernt, dass jedem Menschen 15 Minuten Ruhm zustünden. Und ein Kampf gegen Fury, so Charr, „sind meine 15 Minuten“, denn spätestens in der vierten Runde ginge der Engländer k. o. Ein Mahmoud Charr wäre dann allerdings wohl vergessen, darf man aus diesem merkwürdigen Bezug auf Warhols „15 minutes of fame“ wohl folgern.
Chaos nach Klitschko
Das Schwergewichtsboxen der Profis, das durch die Dominanz eines Tyson Fury, spätestens seit seinem Sieg 2015 über Wladimir Klitschko, wieder als berechenbar und halbwegs seriös galt, ist nun durch die auch nach seinem unklaren Rücktritt weiter anhaltende Dominanz Furys in ein besonders nachhaltiges Chaos gestürzt.
Fury ist faktisch in der Position, mögliche Gegner auswählen oder ablehnen zu können. Einen ihm gefährlich werdenden Boxer wie Anthony Joshua lässt er zappeln. Ihm ziemlich sicher gefährlich werdende Boxer wie Oleksandr Usyk wimmelt er durch bloßes Verhöhnen ab.
Wer also ist derzeit der beste Schwergewichtsboxer der Welt? Wir wissen noch nicht einmal, wann wir es wissen werden.
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