Schwerer Schlag für Ostfriesland: Kalt erwischt
Dass die Krise der Windindustrie Ostfriesland treffen würde, war erwartet worden, aber nicht in diesem Ausmaß. Rettunsplan vom Energieminister.
Er sei ja darauf eingestellt gewesen, dass da was kommen würde, sagt der Bürgermeister, aber nicht so schnell und nicht so drastisch. „Ich bin immer noch geschockt“, sagt Feddermann, der sich fragt, was jetzt aus den Mitarbeitern und deren Familien werden soll.
Enercon ist Opfer der Notbremse geworden, die die Große Koalition in Berlin beim Windkraftausbau gezogen hat. Aus Angst, die Stromkosten aus dem Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) könnten politisch zu kostspielig werden, stellte sie die Förderung von Windkraftanlagen um und begrenzte damit den Ausbau.
Zudem kam es zu einem Genehmigungsstau: Aufgrund des Ausschreibungsdesigns erhielten für den Windstrom an Land (Onshore) viele Bürgerwindparks den Zuschlag, noch bevor sie die immissionsschutzrechtliche Genehmigung erhalten hatten. Sie belegten Kontingente bei der Einspeisung, konnten aber noch nicht losbauen.
Nur noch 150 Windräder
Die Nachfrage nach Windrädern in Deutschland an Land, auf die Enercon spezialisiert ist, gab deshalb massiv nach. Nach einem ersten Einbruch 2018 kam die Installation im ersten Halbjahr 2019 fast zum Erliegen. Nur rund 150 Windräder wurden neu errichtet, circa 80 Prozent weniger als im Vorjahr. Enercon hat in den ersten zehn Monaten dieses Jahres nur 65 Anlagen errichtet. Im Boomjahr 2017 waren es noch 711 gewesen.
Nach Angaben von Enercon-Sprecher Felix Rehwald hat das Unternehmen 2018 erstmals einen Verlust verbucht und 200 Millionen Euro abgeschrieben. 800 Arbeitsplätze wurden abgebaut. Für das laufende Jahr erwartet der Sprecher einen noch höheren dreistelligen Millionenbetrag als Verlust. „Der deutsche Markt ist für uns einfach weg“, sagt Rehwald. Und auch das Klimaschutzgesetz der schwarz-roten Bundesregierung biete keine Zukunftsperspektive. Im Gegenteil: Es erschwere den Ausbau.
Von den 1.500 Arbeitsplätzen, die aktuell in Ostfriesland zur Disposition stehen, fallen 250 bis 300 bei Enercon selbst und die übrigen bei „direkten Produktionspartnern“ weg. Darüber hinaus dürfte die ganze Region in Mitleidenschaft gezogen werden. „Enercon ist ohne Wenn und ohne Aber einer der industriellen Treiber unseres Kammerbezirks“, sagt Jan Amelsbarg von der Industrie- und Handelskammer (IHK) Ostfriesland und Papenburg.
Enercon habe den gleichen Stellenwert wie das VW-Werk in Emden und die Meyer-Werft in Papenburg. Mit den Beschäftigten gehe auch Know-How verloren und „eine hart erarbeitete Wertschöpfungskette“ zu Bruch. Getroffen würden Zulieferer, wie die Gießerei in Georgsheil oder die Betonturmfabrik in Emden. Das reiche bis hin zu den LKW-Speditionen, die sich darauf spezialisiert hätten, die fertigen Anlagen abzutransportieren.
Klimaziel gefährdet
Aus Amelsbargs Sicht geht es jetzt darum, Schlimmeres zu verhindern. Dabei sieht er das Land Niedersachsen auf seiner Seite. „Die niedersächsische Landesregierung denkt und tickt, was das Thema Wind angeht, genauso wie wir“, sagt der IHK-Mann.
Niedersachsens Umwelt- und Energieminister Olaf Lies (SPD) hat zur Rettung der Arbeitsplätze einen Sofortplan „Rückenwind für Onshore-Wind“ vorgeschlagen. Von der Bundesregierung erwarte er „die Vorlage eines Maßnahmen-Pakets für zügigere Planungs-, Genehmigungs- und Beteiligungsverfahren, das schnellstmöglich umgesetzt wird“.
Ohne einen massiven Zubau von Onshore-Windkraft werde Deutschland seine Klimaziele verfehlen. Nach der Photovoltaik dürfe die Bundesregierung nicht auch noch die Windindustrie vor die Wand fahren. Konkret fordert Lies, die Einschränkungen durch die zivile Flugsicherung zu prüfen, die Einspeisevergütung auf zwei Jahre festzuschreiben, das Kurzarbeitergeld zu verlängern, Bürgschaften zu stellen, Innovationen zu fördern und für Akzeptanz der Windenergie zu werben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Leben ohne Smartphone und Computer
Recht auf analoge Teilhabe
Armut in Deutschland
Wohnen wird zum Luxus
Ex-Mitglied über Strukturen des BSW
„Man hat zu gehorchen“
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?