"Schwer vermittelbare" Jugendliche: Die erste Chance
Sie stehen oft ohne Abschluss da, dafür mit Schulden und manchmal mit schwangerer Freundin. Zu Besuch in einem Projekt, das jungen Arbeitslosen bei Job- und Sinnsuche hilft.
BERLIN taz Sie sollen wissen, dass sie die Wahl haben, sagt Pat Flatau. "Du Hurensohn, wie redest du mit mir", ist eine Möglichkeit. Wenn es darum geht, dem Fallmanager bei der Arbeitsagentur klar zu machen, dass man sich gerade ziemlich schlecht behandelt fühlt, ist es vielleicht nicht die beste. Flatau meint das überhaupt nicht als Witz. Wahrscheinlich, sagt Flatau, werden seine Jungs sich auf der Straße noch jedes Mal für "Hurensohn" entscheiden. Aber sie müssen lernen, dass es auch anders geht: "Ich bin gerade wütend, ich gehe jetzt besser ein paar Minuten vor die Tür." Das ist die zweite Möglichkeit.
Am 22. Oktober will sich Bundeskanzlerin Angela Merkel mit den Ministerpräsidenten der Länder in Dresden zum "Bildungsgipfel" treffen. Ein Ausweg aus der deutschen Bildungsmisere? Oder reine Symbolpolitik? Die Autoren der taz beschreiben in einer sechsteiligen Serie, wo die Probleme auf der Baustelle Bildung liegen. Nächste Woche widmen wir uns der frühkindlichen Bildung und beschreiben, woran der von der Regierung geplante Ausbau der Kita-Plätze doch noch scheitern könnte. TAZ
Die jungen Leute, die vom Arbeitsamt im Berliner Bezirk Tempelhof-Schöneberg an Flataus "projekt fair" vermittelt werden, weil man dort mit ihnen nicht mehr weiter weiß, sind oft wütend. Sie haben dutzendweise Maßnahmen hinter sich, Ein-Euro-Jobs, Weiterbildungen. Sie sind manchmal einfach nicht mehr hingegangen, haben Abschlusszertifikate wegen der schlechten Noten zerrissen oder man hat sie rausgeschmissen, weil sie gesagt haben, dass ihnen das zu blöd ist: sich im Kreis aufstellen und sich gegenseitig Bälle zu zu werfen. Manche haben die Realschule besucht, einige besitzen Hauptschulabschlüsse, andere gar keine. Die meisten sind deutlich jünger als 25 und gelten jetzt schon als "schwer vermittelbar". Sie sind gerade dabei der Gesellschaft verloren zu gehen. Das "projekt fair" ist für sie so etwas wie eine letzte Chance. Sechs Monate auf Bewährung. Wenn sie nicht mitmachen, schreibt das Arbeitsamt sie vielleicht endgültig ab.
Pat Flatau ist 35 Jahre alt und hat eine Vergangenheit im Migrantenviertel Kreuzberg, in der eine Gang vorkommt, Punkrock, Drogen und noch so ein paar andere Dinge, die dafür sorgen, dass er mit den jungen Männern meist ganz gut reden kann. Pat Flatau heißt mit Vornamen eigentlich Fitzpatrick, seine Eltern sind Deutsche. Er hat studiert und arbeitet schon seit einigen Jahren mit Jugendlichen, im Norden von Berlin-Schöneberg, wo auf den Straßen viele Gangs unterwegs sind. Die Idee für das "projekt fair" basiert auf dem, was Flatau eine "Nähe-Distanz-Beziehung" nennt. Seine 16 Sozialarbeiter geben etwas von sich preis, Schwächen, Fehler, und wahren trotzdem einen gewissen Abstand. Es sind eigentlich nur Frauen, sagt Flatau, Männer seien dazu selten bereit.
Am Ende des kurzen verschachtelten Laminat-Flurs, nur ein paar Schritte von Flataus hellem Büro entfernt, sitzen Sina Ackermann und Barbara Eitzinger, beide um die dreißig, vor einem Flip-Chart, auf dem in einem Kreis "Der Sinn meines Lebens" steht. Die Frage nach dem großen Ganzen stellen sie sonst nicht so oft. Meist geht es um Schulden, Insolvenzverfahren, Bewerbungen. Darum, wie man Ordnung in ein Leben bringt, in dem gerade einiges durcheinander geht.
Sie machen das nach dem "Sendung mit der Maus"-Prinzip. Sie erklären. Geduldig. Was ist Vattenfall? Wie viel kostet das, wenn mein Rechner den ganzen Tag läuft? Wie lange müsste ich arbeiten, um 345 Euro zu verdienen? Und ist "Hartz IV" nicht eigentlich noch viel mehr Geld, weil mir auch die Wohnung bezahlt wird? Sie besprechen vieles in der Gruppe und zwei Stunden in der Woche sitzen sie mit jedem Einzelnen in ihren kleinen Büros und reden über die Zukunft.
Sie tun das, indem sie nicht nur Grundregeln erläutern, sondern auch übersetzen. Sie erklären, was der "Pap" bei der Arbeitsagentur verlangen muss, weil das im Eingliederungsvertrag steht. Zehn, zwanzig Bewerbungen im Monat beispielsweise. Pap heißt persönlicher Ansprechpartner. Aber für wirklich Persönliches - Drogen, Schulden, Wohnungsverluste - bleibt dort selten Zeit. Deshalb sind Flatau und seine Kollegen die eigentlichen Paps.
Sie machen ihm Mut, die alte Bescheinigung über diesen Pflegebasiskurs bei seinen Bewerbungen noch einmal mitzuschicken und dagegen zu kämpfen, dass dieser verdammte psychologische Test ihm noch länger sämtliche Ausbildungschancen verbaut. Dieser Test, den sie vor Jahren im Jobcenter mit ihm gemacht haben, als seine Freundin ihn gerade verlassen hatte und er "down" war und "stoned" und überhaupt nicht er selbst. Er hat Realschulabschluss, aber der gilt wegen des Tests nicht mehr. Zurzeit hält er für einen Euro die Stunde Grünanlagen sauber. Er macht das gerne.
Und heute also einmal auf dem Stundenplan: der Sinn des Lebens. Das erste, was ihnen dazu einfällt, ist ein Adjektiv: sinnlos.
Jens und Freddy sitzen vor ihren Plastikbechern und schreiben dann doch ein paar Stichworte auf ein Blatt. Familie. Vielleicht mal im Lotto gewinnen. "Mein Kind soll gesund auf die Welt kommen", sagt Jens. "Alle Finger soll es haben. Dann ist gut. Einfach nur gesund, Alter." Jens und Freddy sind kaum zwanzig. Freddy hat 3.000 Euro Schulden. Es kommt ihm vor, als würde er die nie mehr los. Ausbildung, Jobs, das haut alles nicht hin, aber ihre Freundinnen sind beide schwanger. Jens will sich also um eine Lehre kümmern und vorher einen Minijob machen. Regelmäßig aufstehen üben. Die Idee findet Freddy bescheuert.
Jens: Du willst Geld haben? Musste was für tun.
Freddy: Nicht jeder. Die Studenten sind alle einfach so reich.
Eitzinger: Ich hab studiert. Das stimmt nicht, du machst es dir ein bisschen leicht.
Freddy: Warum hab ich keinen Freund, der studiert hat. Weil ich falsche Freunde habe? Die wollen nichts mit uns zu tun haben, weil wir Unterschicht sind.
Ackermann: Die haben in der Zeit, als ihr schon mit der Schule fertig wart, Abitur gemacht. Die mussten für die Schule arbeiten. Die hatten ein anderes Leben. Das heißt nicht, dass die dich nicht wollen.
Eitzinger: Macht es euch nicht so einfach!
Ackermann: Du kannst auch studieren. Du bekommst Bafög. Habe ich genauso gemacht. Willst du wissen, wie viel Schulden ich habe? Willst du das wissen? 18.000 Euro.
Freddy: Du verdienst auch. Bestimmt nicht weniger als 'n Dussi.
Ackermann: Einen was?
Freddy: Einen Tausender.
Ackermann: Doch.
Freddy: Da würde ich nicht arbeiten hier. Da wäre ich mir zu fein für.
Eitzinger: Mir macht es Spaß, mit euch zu arbeiten.
Freddy: Arbeiten?! Ihr esst Kekse hier. Andere Leute, wenn die abends fertig sind, haben die Staub in der Nase. Hier zwitschern die Vögel.
Ackermann: Wir essen also Kekse.
So üben sie Diskutieren, Überzeugen. Rede, Gegenrede. Argumente.
Sulaimann, ein breiter, schwerer Typ, hat eine Weile still zugehört. Er hat auch vorher nicht viel gesagt, als Freddy sich darüber beschwert hatte, dass sein Kind in diesem Loch Deutschland aufwachsen wird und Shahin plötzlich ganz aufgeregt war: "Du sagst hier ist Loch. Geh' in den Libanon. Da malst du auf die Wand. Die Polizei kommt, nimmt dich mit. Auf dem Weg zur Wache: Schläge, Schläge, Schläge. Auf der Wache: Hier Schelle, da Schelle. Und in Deutschland? Sagt die Polizei: Bitte, bleiben Sie stehen. Die Polizei sagt zu dir ,bitte', verdammt!"
Sulaimann stammt wie Shahin aus dem Nahen Osten. Er ist heute viel zu spät gekommen. Die Polizei hat seinen Bruder aus dem Laden der Eltern abgeholt. Haftbefehl, Einbrüche. Versteht Sulaimann auch nicht, der hatte alles, Geld von den Eltern, beste Poloshirts. Seine Mutter hat geheult, nur geheult. Er musste sich also kümmern. Der Anwalt hat gesagt, sein Bruder kommt bald wieder raus. Und dann musste er schnell zum "projekt fair". Hätte er schon wieder gefehlt, wäre er rausgeflogen. Die Regeln sind streng. Sulaimann hat sich das alles angehört und jetzt muss er die Sozialarbeiterinnen doch verteidigen, wo Freddy sie gerade so angegriffen hat: "Wie Sina manchmal so Geduld hat mit mir", sagt er. "Ich möchte nicht mit ihr tauschen." Sina Ackermann schaut ganz kurz ein wenig gerührt. "Danke Sulaimann". Dann ist die Stunde zuende. "Es ist immer wieder gut festzustellen, wie reflektiert ihr letzten Endes doch seid", sagt Ackermann.
Einige Wochen später schaut sie mit Beate Blankenburg zur offenen Tür hinaus. Draußen wuchtet Tom mit zwei anderen ein blaues Sofa die Stufen hinunter. Ein Geschenk vom "projekt fair" gewissermaßen. Für seine Wohnung. Blankenburg kümmert sich um Tom, eine zupackende Frau mit gegeltem, maronen-rotem Igel, die im Hauptberuf Führungskräfte an Pferden coacht. "Ich brauche nur einen Ausbildungsplatz", sagt er, "dann läuft es von alleine." Und sie sagt, dass es manchmal traurig ist, wenn die Leute motiviert sind, ihren Hintern vom Sofa hochbekommen haben und dann feststellen müssen: "Da ist einfach nichts da für sie." Kein Job, keine Lehre. Da kann die Vermittlung sich noch so sehr auf den Kopf stellen, wenn es nichts zu vermitteln gibt. Kaum einer lässt sich hängen, sagt Blankenburg: "Die wollen alle wat." Manche freuen sich, wenn sie in den frühen Morgenstunden den Dreck von U-Bahnsteigen kehren dürfen. "Die sehen sich oft nach einem ganz normalen spießigen Leben."
Blankenburg und Ackermann schauen Tom und den anderen dabei zu, wie sie die Couch am abgeschabten, mintgrünen Geländer vorbeischieben. "Wollen die das so nach Hause tragen", fragt Ackermann und schaut etwas skeptisch. "Lass' se man, die schaffen das schon", sagt Blankenburg.
*Namen geändert
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