Schweizer Jugenddrama „Chrieg“: Gestählte Körper als Panzer
Der Schweizer Regisseur Simon Jaquemet zeigt in seinem Spielfilmdebüt „Chrieg“ eine Welt voller entfesselter Gewalt vor Heidi-Idylle.
Die Zeichen stehen früh auf Konfrontation. Am Esstisch sitzt der 15-jährige Matteo stumm seinem Vater gegenüber. Die Spannung zwischen den beiden ist greifbar. Matteo beobachtet den tätowierten Hünen mit einer Mischung aus Trotz und Respekt, er selbst verzieht keine Miene. Der Körpersprache des Vaters nach zu urteilen könnte er jede Sekunde über den Tisch langen und seinem Sohn eine runterhauen. Er räumt dann aber nur den Tisch ab, während sich im Hintergrund die übergewichtige Mutter um ihren Säugling kümmert.
Mit dieser prägnanten Familienaufstellung beginnt das Schweizer Jugendrama „Chrieg“, das im vergangenen Jahr auf dem Max-Ophüls-Festival mit dem Preis für den besten Nachwuchsdarsteller ausgezeichnet wurde. Den Preis hat sich Newcomer Benjamin Lutzke redlich verdient. Seine Mimik strahlt eine ruhelose Energie aus, die noch keine Schauspielschule korrumpiert hat. Regisseur Simon Jaquemet hat ihn für sein Langfilmdebüt auf der Straße entdeckt – vor dem Zürcher Hauptbahnhof.
Auch Matteo wirkt heimat- und ziellos, Typ Straßenjunge mit blauen Haaren und Slayer-T-Shirt, der wie ein Kuckucksei in diese Reihenhaushölle mit Bodybuilder-Vater und adipöser Mutterglucke gelegt wurde. Man kennt dieses kleinbürgerliche Milieu, deren öffentliche und private Sphären eine peinigende Durchlässigkeit aufweisen, aus dem alpenländischen Kino, der Bezug zu Ulrich Seidls Filmen ist deutlich. In „Chrieg“ bleibt das Gewaltpotenzial zunächst latent, bis es sich an unerwarteter Stelle Bahn bricht.
Irgendwann ist das Maß voll. In einer Kurzschlussreaktion entführt Matteo seinen kleinen Bruder in den Wald. Da steht er dann mit dem Baby im Arm auf einer Lichtung, ein Reh blickt ihm entgegen und Matteo versichert sich flüsternd der Solidarität des Bruders: „Bist du mein Freund, wenn du groß bist?“
„Chrieg“. Regie: Simon Jaquemet. Mit Benjamin Lutzke, John Leuppi u. a. Schweiz 2015, 114 Min.
Zu Hause wird die erratische Aktion mit Schweigen quittiert, doch nachts dringen zwei Männer in Matteos Zimmer ein und verschleppen ihn auf einen Almbauernhof, eine Art Bootcamp für schwer erziehbare Jugendliche. Im letzten verzweifelten Blick der Mutter dem Transporter hinterher (Blicke spielen im Film eine vielsagende Rolle, wo die verbale Kommunikation versagt) drückt sich eine Ausweglosigkeit aus, die die Menschen in „Chrieg“ charakterisiert.
Zurichtung des Neuankömmlings
Die Ordnung auf dem Hof entspricht den Vorstellungen des Vaters von Männlichkeit. Bauer Hanspeter unterliegen nur nominell die Aufsichtspflichten über die Jugendlichen, die meiste Zeit liegt er besoffen in der Ecke. Stattdessen haben Anton, Dion und Ali das Tagesgeschäft übernommen – wozu auch die Zurichtung des Neuankömmlings gehört. Nachts zerren sie ihn aus dem Bett, beschmieren ihn mit Ziegenscheiße und sperren ihn in einen Käfig.
Nach ein paar weiteren Mutproben hat Matteo seine Tauglichkeit bewiesen, dann geht es in die Stadt: Nutten aufreißen und in den Clubs Randale machen. Der Zyklus aus Gewalt und Unterdrückung eskaliert in immer sinnloseren Übergriffen gegen die Außenwelt.
Auf dem Hof haben die Jugendlichen eine eigene gesellschaftliche Ordnung geschaffen, ohne elterliche Aufsicht: eine Herr-der-Fliegen-Utopie in der Heidi-Idylle. Die Männlichkeitsrituale und Mutproben erfüllen einen seltsamen Zweck: Gruppendynamisch geht es um Selbstbehauptung, nach außen hin um Machtdemonstrationen und Zerstörung.
Haare uniform geschoren
Schwächen werden nicht geduldet, die Haare der Jugendlichen sind uniform geschoren. „Warum benimmst du dich eigentlich wie ein Junge?“, fragt Matteo einmal Ali, das einzige Mädchen der Gruppe. „Und warum benimmst du dich wie eine Schwuchtel?“, entgegnet sie.
Da deutet sich bereits an, dass das Mädchen für Matteo die einzige Verbindung zu seiner Vorgeschichte bildet. Wenn sie sich nachts heimlich aneinanderkuscheln, schwingt die Frage mit, die Matteo im Wald seinem kleinen Bruder gestellt hat. Emotional werden diese Konflikte in „Chrieg“ nicht ausagiert. Jaquemet schwebt vielmehr reines Affektkino vor, das sich über die zunehmend gestählten Körper der Jungen definiert.
Entsprechend viszeral fühlt sich die mobile Kamera von Lorenz Merz an, die den Protagonisten ständig im Nacken sitzt und deren hektische Bewegungen, das Geschubse und Gerangel nachempfindet. Für einen Debütfilm ist diese entfesselte Intensität ziemlich bahnbrechend. Aber es mangelt „Chrieg“ auch an einem klaren gesellschaftlichen Gegenentwurf. Jaquemet sucht für das diffuse, autoaggressive Unbehagen der Kids konkrete (Gewalt-)Bilder, die als serielle szenische Miniaturen ihre Spezifik verlieren.
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