: Schwarze Zukunft
Europa hat aus seinen Kriegen und Massakern gelernt. Afrika schafft seine Renaissance nur, wenn es die andauernde Katastrophe in der Region der Großen Seen bewältigt
Es gibt nur wenige Friedhöfe in Ruanda. Obwohl die Nation den schnellsten Völkermord der Neuzeit erlebt hat – eine Million Opfer bei acht Millionen Einwohnern innerhalb von weniger als drei Monaten –, bleibt die Trauer um die Toten verborgen. Ländliche Gesellschaften in Afrika pflegen ohnehin nicht, ihre Toten sichtbar zu bestatten. Aber in Ruanda wirken selbst die wenigen Gedenkstätten mit ihren kunstvoll gefüllten Vitrinen voller Schädel und sortierter Knochen eher fremd. Nachhaltiger sind die Veränderungen des Genozids in den Menschen: Desillusioniert gehen sie heute mit ihrem eigenen Leben oder dem Leiden anderer um, und schonungslos beurteilen sie die Welt, die sich damals nicht rührte.
Ruanda ist kein Sonderfall mehr. Von 20 Millionen Menschen im Osten der Demokratischen Republik Kongo sollen seit 1998 drei Millionen dem Kongo-Krieg und seinen Auswirkungen zum Opfer gefallen sein. Das geschah ohne große Massaker oder spektakuläre Schlachten. Es gibt keine Wallfahrtsorte, keine allgemein bekannten Massengräber. In weiten Landesteilen finden sich dort, wo einst Dörfer und Felder lagen, heute nur noch Ruinen und Gestrüpp; und wenn noch Bewohner übrig sind, dann leben sie nun meist woanders, oft im tiefsten Elend.
Die Kriege im Afrika der Großen Seen haben inzwischen einen Blutzoll gefordert, der jedes menschliche Vorstellungsmaß übersteigt. Nimmt man die Gräuel der Warlords von Uganda dazu sowie die Verwüstungen von 30 Jahren Massaker in Burundi, ist in der Region ein Ausmaß von Zerstörung und Gewalt erreicht, das Europa nur aus seinen Weltkriegen kennt.
Dass in diesem Teil Zentralafrikas „Afrikas Erster Weltkrieg“ tobt, wie Bill Clintons längst vergessene Außenministerin Madeleine Albright die Lage einst taufte, könnte zu dem Schluss verleiten, es sei der Welt wichtig, daran etwas zu ändern. Aber dies ist nicht der Fall. Beim Völkermord in Ruanda 1994 schaute die „internationale Gemeinschaft“ tatenlos zu. Bei den Kriegen im Kongo tut sie nicht einmal das. Gab es bei Ruanda immerhin noch eine Diskussion darüber, wie man die Ereignisse zu verstehen habe und wer an welcher Unterlassung schuld sei, wird das Schicksal des Kongo ignoriert, obwohl es einen halben Kontinent destabilisiert, Militärdiktaturen gestärkt und das Aufkommen einer neuen Art informeller Kriegsökonomien begünstigt hat.
Die gigantischen Hilfsmaschinerien, die 1994 zur Rettung ruandischer Flüchtlinge im damaligen Zaire mobilisiert wurden, oder die großspurigen Versprechungen, mit denen die UNO die Friedensprozesse in Burundi und Kongo begleitete, gehören der Vergangenheit an. Heute reicht es nicht mehr, massenweise zu sterben, um internationale Aufmerksamkeit zu erregen. Diese Erfahrung der Gleichgültigkeit, die Ruanda 1994 machte, hat der Rest der Region inzwischen nachgeholt. Umso größer ist die Hoffnungslosigkeit, umso größer aber auch der Widerwille, sich dann plötzlichen irrationalen Zuckungen auswärtiger Hilfsbereitschaft unterzuordnen, wie es Anfang 2002 beim Ausbruch des Nyiragongo-Vulkans an der ruandisch-kongolesischen Grenze geschah.
Die Leute im Afrika der Großen Seen – die, die noch leben – lassen sich nichts mehr vorschreiben und nichts mehr vormachen. Aber es steht kaum in ihrer Macht, an ihrer verzweifelten Lage etwas zu ändern. Die Friedensprozesse bleiben Hohn, die lokalen Herrscher überbieten sich gegenseitig in der Geringschätzung ihrer eigenen Bürger. Die Inhalte politischen Streits verflachen, weil ihre Träger verschwinden. Themen, über die sich noch vor Jahren die Dichter, Denker und Macher der Gegend erregten, sind heute im politischen Diskurs verwaist, da die Intellektuellen entweder tot sind, zum Schweigen gebracht wurden oder die Region verlassen, um Gehör zu finden. In der Bevölkerung verschwindet zugleich das Wissen um die Erhaltung kultureller Überlieferungen, gesellschaftlicher Zusammenhänge, politischer Identitäten und ökonomischer Überlebensstrategien.
Auch viele der Fremden, die sich lange in der Region engagierten, haben mittlerweile aufgegeben. Die meisten kapitulierten vor dem Schrecken und zogen fort. Einige wenige trieb das Grauen in den Wahnsinn oder den Selbstmord. Ein kollektives Gedächtnis hat die „internationale Gemeinschaft“ nicht. Aber auch die Summe der vielen Einzelerfahrungen stimmt eher pessimistisch. Kaum jemand glaubt noch daran, etwas ändern zu können.
Wer zurückbleibt, ist den Nachwirkungen der Geschichte wehrlos ausgesetzt. Wer noch lebt, darf darüber froh sein; kaum ein Mensch in dieser Region hat noch eine intakte Familie. Die Erfahrungen persönlicher oder familiärer Katastrophen schmieden die Leute einerseits zusammen im Sinne kollektiven Leidens, trennen sie andererseits voneinander im Sinne persönlicher Schicksale. Die Gesellschaften verlieren an Vielschichtigkeit; zugleich wird ihr Machtgefüge fester und werden ihre Hierarchien undurchlässiger.
Diese Veränderungsprozesse bleiben nicht ohne Wirkung auf die Umgebung. Das Afrika der Großen Seen ist zum schwarzen Loch des Kontinents geworden, ein Hort zerstörerischer Energie. Die Fäden der unkontrollierten Schmuggelökonomie der Region umspannen heute die halbe Welt. Die kaum zu durchschauenden informellen Machtstrukturen wirken auf zahlreiche afrikanische Länder zurück: Verantwortungslosigkeit, Terror gegen Zivilisten und Straflosigkeit blühen hier mehr als irgendwo sonst auf der Welt.
Das vergiftet die politische Kultur eines ganzen Kontinents. Eine Renaissance Afrikas aus eigener Kraft ist nicht möglich, solange Afrika nicht in der Lage ist, diesen Zustand der Rechtlosigkeit in seinem Herzen zu beenden – ganz abgesehen davon, dass die mineralischen und energetischen Potenziale des Kongo zentral für den ökonomischen Aufbau des Kontinents sind. Doch trotz des Ausmaßes der Herausforderung, die die Region der Großen Seen für Afrika darstellt – oder vielleicht gerade deswegen –, blendet die afrikanische Zukunftsdiskussion das Drama in Zentralafrika fast vollständig aus.
Diese kollektive Amnesie, für die die meisten Beteiligten nichts können, wird sich irgendwann rächen. Europas Erster Weltkrieg führte immerhin zu dem Versuch, das Grauen zu verarbeiten. Kilometerweit erstrecken sich bis heute die Soldatenfriedhöfe in Nordostfrankreich, millionenfach gedenken die Briten noch jetzt an jedem 11. November ihrer Opfer. Deutschland, Osteuropa und Russland leben bis heute im Schatten der noch viel verheerenderen Folgen des Zweiten Weltkriegs und des Holocausts. Aber Europa hat es im Laufe der Jahrzehnte geschafft, aus dem Schatten seiner Kriege herauszutreten. Das Perfide an Afrikas Erstem Weltkrieg ist, wie wenig er zu hinterlassen scheint – und wie viel er zugleich vernichtet hat. DOMINIC JOHNSON
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