Schulreform: Solche und solche Ärzte
40 Ärzte protestieren gegen den Aufruf ihrer Kollegen, die Primarschule zu verhindern. Patienten würde grundlos Angst gemacht, was Mediziner nicht dürften.
Es steht in jeder Schulstudie. Die Chance, nach der 4. Klasse aufs Gymnasium zu kommen, ist für das Chefarztkind zigfach größer als für das Kind einer Putzfrau, bei gleicher Intelligenz. Und dann das. Ärzte drohen mit Versorgungsmangel, weil Hamburg die sechsjährige Grundschule einführen will. "Nicht in unserem Namen", schreiben jetzt 40 andere Ärzte, die sich von ihren Kollegen distanzieren.
"Es gibt solche und solche Ärzte", sagt Professor Christian Haasen vom UKE-Zentrum für Suchttherapie. "Es darf nicht der Eindruck entstehen, dass die 47 für die Hamburger Ärzteschaft sprechen." Der Vorwurf, der Gesundheitsstandort sei in Gefahr, weil Ärzte für ihre Kinder das Altsprachliche Gymnasium ab Klasse 5 wollten, sei "absurd". Haasen: "Die meisten jungen Ärzte wollen am liebsten in die USA. Und dort gibt es die zwölfjährige Schule für alle." Auch dass das frühe Lernen von alten Sprachen für den Medizinberuf wichtig sei, sei ein Mythos. Für das Studium brauche man das nicht. "Im Mekka der Medizin, den USA, spricht keiner Latein."
Der Gegenaufruf wurde am Donnerstag spontan verfasst und übers Internet verbreitet, nachdem sich Ärzte über die Lektüre der Zeitungen geärgert hatten. Es kämen laufend Unterschriften dazu, sagt Haasen.
Die Sorge: Die 47 Ärzte befürchten, dass Kinder von Assistenzärzten, die nur kurz in Hamburg leben, Nachteile haben, wenn sie in andere Länder wechseln.
Sachlich nicht begründet, sagt die Schulbehörde. Kinder in der Primarschule lernen nicht weniger. Vorgaben der Kultusminister stellen den Wechsel sicher.
An der Primarschule unterrichten auch Gymnasiallehrer. Der Fachunterricht beginnt sogar schon früher als bisher. In Natur und Technik und Gesellschaft ab Klasse 3, in Englisch ab Klasse 1.
Keine Insel: Auch in Berlin und Brandenburg gibt es sechsjährige Grundschulen.
Die Unterzeichner vermissen bei ihren Kollegen soziale Verantwortung, die der ärztliche Berufsethos mit sich bringen sollte. Stattdessen beinhalte der Ärzte-Brief eine "elitäre Abgrenzung, damit die Kinder gutsituierter Kaufleute und Ärzte unter sich bleiben, statt weitere zwei Jahre im bekannten Klassenverband zu bleiben". Dabei belegten evidenzbasierte Studien, dass längeres gemeinsames Lernen zu besseren Ergebnissen führt. Gerade Mediziner sollten evidenzbasiertes Handeln fordern.
"Was wir brauchen, um junge Ärzte nach Hamburg zu holen, sind familienfreundliche Arbeitszeiten und Ganztagsschulen", ergänzt die Frauenärztin Anke Kleinemeier. Auch die Bezahlung in den Kliniken sei ein Kriterium, nach dem junge Mediziner sich entschieden.
Von den Unterzeichnern haben viele schulpflichtige Kinder. Kleinemeier: "Ich hätte mir für meine ältere Tochter gewünscht, dass sie länger in der Grundschulklasse bleiben kann. Und ich freue mich, dass meiner jüngeren Tochter das möglich wird."
Der Orthopäde Torsten Hemker hat seit April Briefe zur Primarschule an Patienten verteilt, in dem es hieß: "Als Arzt möchte ich Sie auf einen wichtigen Aspekt in dieser Diskussion hinweisen." Die Schulreform gefährde den Gesundheitsstandort Hamburg und "betrifft auch Sie als Patient". Für Kleinemeier ist dies Vorgehen unethisch. "Hier wird Angst erzeugt. Und das ist medizinisch gesehen nicht gut." Ärzte hätten eine Vertrauensstellung gegenüber den Patienten, die sie nicht missbrauchen dürften.
Hemker das - schon drei Wochen vor seiner öffentlichen Aktion - zu sagen, hatte auch Ole von Beust versucht, dem das Schreiben an eine Patientin vorlag. "Mich irritiert ihr Vorgehen", schrieb der Bürgermeister dem Arzt. Ginge er doch bisher davon aus, dass eine ärztliche Behandlung "nicht unbedingt eine politische Vereinnahmung beinhalten sollte".
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Der Check
Verschärft Migration den Mangel an Fachkräften?