Schulpolitik in Baden-Württemberg: Gezähmte Schulrebellen
10 Jahre Schulpolitik unter grüner Regierung: Es gibt inzwischen fast 300 Gemeinschaftsschulen, aber kaum noch neue. Und die Inklusion stockt
Die grün-rote Landesregierung führte die Gemeinschaftsschule 2012 als neue Schulform ein. Keine Noten, kein Sitzenbleiben, stattdessen längeres gemeinsames Lernen – die Erwartungen waren hoch. Das gutbürgerliche Ravensburg war Vorreiter, hier gingen gleich zwei Gemeinschaftsschulen an den Start. Die Kuppelnau-Hauptschule, die die taz 2011 besuchte und deren damaliger Direktor Rudolf Bosch unter der CDU-Regierung noch als Schulrebell galt. Und die Stefan-Rahl-Grund- und Hauptschule, an der Glosser arbeitete.
Sie erzählt von der Aufbruchstimmung, von Besuchen in der Schweiz beim Schulgründer Peter Fratton. Schnell sei man dann aber auch in der Praxis gelandet – es gab weder Bücher noch fertige Konzepte für die neue Schulform. Die Anfänge waren mühsam, Fortschritte erkämpften sich die Lehrer:innen mit vielen Überstunden, Fleiß und Enthusiasmus.
Inzwischen gibt es gut 300 Gemeinschaftsschulen in Baden-Württemberg, die meisten hervorgegangen aus ehemaligen Haupt- oder Realschulen. Und kaum noch Neuanträge. Die Gemeinschaftsschule hat sich etabliert, doch der Schwung des Anfangs ist vorbei. Eine ernsthafte Konkurrenz für die anderen Schulformen, wie der damalige Schulrebell Bosch hoffte, ist sie nicht, sondern eine von fünf weiterführenden Schulen im immer noch stark gegliederten baden-württembergischen Schulsystem.
Vier von 300 Gemeinschaftsschulen mit Abiturstufe
Das liegt auch daran, dass die Koalition nach fünf Regierungsjahren ins Grün-Schwarze wechselte und das Schulministerium von der SPD an die CDU ging. Die wollte die Gemeinschaftsschulen zunächst abschaffen, duldete sie dann aber, förderte jedoch verstärkt Realschulen und Werkrealschulen, die ehemaligen Hauptschulen.
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„Wir hatten unter der CDU-Kultusministerin keinen Rückhalt mehr und keinen Rückenwind“, sagt Matthias Wagner-Uhl vom Verein der Gemeinschaftsschulen Baden-Württemberg. Dennoch hätten sich die Gemeinschaftsschulen unter schwierigen Bedingungen gut behauptet. An die Schule in Neuenstein, die er leitet, wechselten inzwischen bis zu 75 Prozent der Grundschüler. Dabei verfügt die Schule wie fast alle hiesigen Gemeinschaftsschulen nicht über eine eigene Abiturstufe, die gibt es nur an vier Gemeinschaftsschulen. Die Abiturstufe sei ein Puzzleteil für den Erfolg der Gemeinschaftsschulen, meint Wagner-Uhl. „Ein harter Standortfaktor für die bildungsaffinen Eltern.“
Sein Verband habe die klare Erwartung, dass die Grünen in der nächsten Regierung nach dem Kultusministerium griffen und wieder visionäre Bildungspolitik machten.
Die Schuld wird auch Kretschmann gegeben
Enttäuscht von den Grünen ist dagegen Matthias Schneider von der Bildungsgewerkschaft GEW. „Starke Grüne haben sich wenig für Bildung interessiert“, sagt er. „Die grüne Basis hat es lautlos zugelassen, dass fünf Jahre eine klassisch konservative Bildungspolitik gemacht wurde.“ Bei der Inklusion von Kindern mit und ohne Behinderung sei das Land nicht vorangekommen, im Gegenteil. Der Anteil der Kinder, die separat in sonderpädagogischen Einrichtungen unterrichtet werden, ist in den vergangenen zehn Jahren sogar leicht gestiegen.
Die Grünen hätten zwar nie das Bildungsressort innegehabt, aber das Finanzministerium. Und viel zu wenig in die Schulen investiert, meint auch Michael Gomolzig vom Verband Bildung und Erziehung. „Und das lasten wir höchstpersönlich dem grünen Ministerpräsidenten an.“
Die beiden Ravensburger Gemeinschaftsschulen sind 2019 zu einer fusioniert. Die Schule habe heute in der Ravensburger Schullandschaft einen festen Platz, sagt Glosser, und sei bei den Eltern anerkannt. Vor allem bei jenen, die längeres gemeinsames Lernen und individuelle Förderung schätzten.
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