Schuljahresende an Waldorfschulen: In die Ferien hinein meditieren
Unsere Kolumnistin fragt sich, wie an Waldorfschulen Zeugnisse zustande kommen. Gar nicht so schwer, weiß sie heute: Es reicht das innere Auge.
Lea ist ein sehr liebes, rundum gesundes und harmonisches Kind.“ – der erste Satz in meinem ersten Waldorfschulzeugnis. Da wir keine Halbjahreszeugnisse bekamen, war der letzte Tag vor den Sommerferien wirklich ein ganz besonderer Tag. Wir wurden einzeln aufgerufen und mussten uns das Zeugnis im geschlossenen Umschlag mit einem mündlichen Kommentar von der Klassenlehrerin abholen.
Zu Hause haben meine Eltern den Brief geöffnet, ab und an beim Lesen geschmunzelt und mir gesagt, es wäre ein gutes Zeugnis. Lesen durften wir es erst ab der 6. Klasse. Ich habe noch meinen Zeugnisspruch bekommen und dann sind wir Eis essen gegangen. Angst vor schlechten Noten musste ich keine haben.
Wenn ich jetzt meine Zeugnisse lese, fällt mir auf, dass mein Leistungsstand unklar bleibt, dafür aber mein Wesen intensiv behandelt wird. In meinem Zeugnis steht, ich sei mit „warmherziger Innigkeit und Hingabe“ beteiligt gewesen und würde mich „stets bescheiden und hilfreich in das Ganze einordnen“, sei eine „Stütze der Klasse“. Außerdem sei himmlische Helle durch mein Herz geflossen oder meine Willenskräfte hätten im Laufe des Jahres abgenommen. Meine Erinnerungen sind anders. Wieso wurde dieses Kind für meine Eltern gezeichnet?
Von meiner LRS steht nichts, obwohl ich deswegen sogar „Extrastunde“ und Heileurythmie hatte. Stattdessen: „Lea arbeitet langsam, mit viel Bedacht, doch auch manchmal oberflächlich.“ Und: „Ich wünsche Lea, dass sie […]nach und nach lernt, einige ihrer Umkreisantennen auf die eigene Sorgfalt zu richten.“ In meinem Zeugnisspruch musste ich jeden Freitag aufsagen, dass manches Werk „sorgsam stilles Walten“ bräuchte und ich war davon überzeugt, dass ich hartnäckig an meinem Wesen arbeiten müsse.
„Kontemplativer Prozess“
Ich hab mich gefragt, wie Waldorfzeugnisse zustande kommen. Im Magazin des Bundes der Freien Waldorfschulen steht 2022: „Wir stellen uns jedes Kind, jede:n Jugendliche:n vor unser inneres Auge, widmen uns wertschätzend den jungen Menschen im Erkennen dessen, was geleistet wurde. Wir messen das Kind an sich selber […]. Fast ein kontemplativer Prozess.“ Meine Zeugnisse wurden also dahin meditiert. Das erklärt so einiges.
Noch esoterischer wird es beim Nürnberger Waldorflehrerseminar: Es stünde nicht die „Vergangenheits-Bilanz“ im Vordergrund, sondern „die Ansprache des in der Entwicklungszeit noch verborgenen künftigen Menschen, der seine freien Ich-Kräfte emanzipieren will.“ Und bei den „Freunden der Erziehungskunst“ ist das Zeugnis „ein Gutachten“ über „das gesamte schulische Leben“. Daher steht wohl in meinem Zeugnis, dass ich eine „tiefe und innige Freundschaft zu einer Klassenkameradin geknüpft“ und oft mein Kuscheltier neben die Tafel gesetzt hätte.
Offenkundig war nichts privat und alles wurde anthroposophisch interpretiert. Es fühlt sich anmaßend und übergriffig an, derlei Dinge zwölf Jahre lang über mich zu lesen und zu wissen, dass meine Lehrkräfte täglich mit diesem Blick auf mich geschaut haben.
Wir hatten zwar keine Noten, aber begutachtet wurden wir dennoch – ganzheitlich – in unserem ganzen Sein beurteilt. Auch wenn die Waldorf-Literatur lieber von „charakterisiert“ spricht. Was für eine Erleichterung, als im Studium nur noch meine Leistung evaluiert wurde und nicht mehr ich als Mensch.
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