Schuldenbremse in Sachsen-Anhalt: Jetzt wird abgestottert

In Sachsen-Anhalt sind die Kassen leer, weshalb CDU und FDP mit der Schuldenbremse geschmeidig umgehen. Wie wirken sich knappe Kommunalfinanzen aus?

Die historische Strassenbahn "Wilde Zicke" in Naumburg

Auch die „Wilde Zicke“, die historische Naumburger Straßenbahn, braucht Geld Foto: Steffen Schellhorn/imago

Reiner Haseloff ist vor der Arbeit noch schnell in die Klosterkirche gegangen. Es ist Mitte Mai, und die Landesregierung von Sachsen-Anhalt trifft sich zur auswärtigen Kabinettssitzung in Schulpforte. Als die Sitzung vorüber ist, berichtet er, wie schön die Kapelle restauriert wurde, so wie alle instandgesetzten Gemäuer auf dem Gelände des Klosters, das seit Jahrhunderten die Landesschule Pforta beherbergt.

1987, so erzählt es Haseloff, war sein Kirchgang weniger beschaulich. „Als ich die Tür aufmachte, da kam mir ein ganzer Schwung Tauben ins Gesicht geflogen!“ Solche Anekdoten muss man hervorkramen, um klarzumachen, wie sehr sich Sachsen-Anhalt gewandelt hat. „Ich habe 35 Jahre in dem einen Staat zugebracht und 35 Jahre in dem anderen …“, beginnt Haseloff und lässt den Satz stehen.

Diesen Gedanken muss man nicht weiter ausführen, um zu erkennen, welcher Staat der solidere ist und der finanzstärkere – trotz aller Debatten über den Bundeshaushalt für das kommende Jahr, um den die Bundesregierung in diesen Tagen ringt. Dennoch lohnt sich ein Blick in die Länder und Kommunen, um die Lage der öffentlichen Kassen zu begreifen.

In Schulpforte öffnet Reiner Haseloff jetzt aber erst mal ein Füllhorn und stellt der Stadt Naumburg, zu der Schulpforte gehört, knapp 21 Millionen Euro in diesem Jahr in Aussicht und dem Burgenlandkreis fast 84 Millionen. Dazu fließen Gelder aus dem Strukturwandelfonds – der Kreis ist vom Kohleausstieg betroffen –, und auch aus EU-Programmen. Es gibt einen „Ausgleichsstock“, es gibt Geld für Kunst und Kultur, für das Unesco-Welterbezentrum am Naumburger Dom, für Straßen, für das Sportbad, für Schulen, Kliniken.

Irgendwann schließt sich das Füllhorn wieder und Armin Müller, der Oberbürgermeister von Naumburg, bedankt sich wortreich. Müller braucht dringend Hilfe. Die kommunalen Eigenbetriebe, die Stadtwerke, das Freizeitbad sind in gefährlicher Schieflage. Und die „Wilde Zicke“, die historische Naumburger Straßenbahn, benötigt bis zum Jahresende eine neue Finanzierung, außerdem ist die Feuerwache marode. Ganz zu schweigen von den drei stolzen, leider restaurierungsbedürftigen Burgen, und 2026 steht die Tausendjahrfeier vor der Tür.

Einen Geldsegen könnte man bei den Kommunalfinanzen öfter gebrauchen. Denn Programme, Förderrichtlinien und Strukturwandelfonds ersetzen keinen soliden Haushalt. Götz Ulrich, der von Haseloff ebenfalls bedacht wurde, ist nicht nur Landrat des Burgenlandkreises, sondern auch Präsident des Landkreistages von Sachsen-Anhalt. Im Februar hat er Alarm geschlagen. Keiner der elf Landkreise kann einen ausgeglichenen Haushalt vorlegen. Das Defizit summiert sich allein in diesem Haushaltsjahr auf etwa 200 Millionen Euro.

Jetzt wird abgestottert

Die Lage ist ernst und ein Urteil des Oberverwaltungsgerichts Magdeburg vom Dezember 2023 zur Kreisumlage hat sie noch verschärft. Die Kreisumlage ist eine der Haupteinnahmequellen der Landkreise, um öffentliche Aufgaben wie Nahverkehr, weiterführende Schulen, Kliniken und Müllabfuhr zu erfüllen. Die Höhe der Umlage, im Schnitt etwa 40 Prozent der Einnahmen einer Kommune, beschließt der Kreistag, ein Mitspracherecht haben die Kommunen nicht. Um sich gegen zu hohe Umlagen zu wehren, bleibt nur der Gang vor das Verwaltungsgericht.

Genau das taten Gemeinden des Landkreises Mansfeld-Südharz, weil sie die Kreisumlage für überhöht hielten, und bekamen recht. Es geht insgesamt um 120 Millionen Euro, die der Kreis Mansfeld-Südharz nun abstottern muss. Es ist wie der Kampf von Frierenden um eine Decke, die viel zu kurz ist, um alle zu wärmen.

Aber wie lässt sich eine auskömmliche Finanzierung der kommunalen Ebene erreichen, Herr Haseloff?

Der Ministerpräsident zeichnet zunächst ein leistungsfähiges Land mit all seinen Segnungen. Er beschreibt den deutschen Sozialstaat, erinnert an die Vielzahl der „Finanzbedarfe“, umreißt staatliche Aufgaben wie die Einwanderung und Bildung und lobt dieses Deutschland als eines der lebenswertesten Länder überhaupt. Nach dieser Würdigung verdüstert sich Haseloffs Ton. „Derzeit geben wir mehr aus, als wir einnehmen.“ Was es brauche, seien neue Industrien, Gewerbegebiete und Fachkräfte, kurzum – Wachstum und Investitionen.

Haseloffs Diagnose trifft auch auf Sachsen-Anhalt selbst zu. Die Kassen sind seit Jahren leer. Um trotz Schuldenbremse zu investieren, hat der Magdeburger Landtag unter Berufung auf die Pandemie Ende 2021 die „wirtschaftliche Haushaltsnotlage“ erklärt. Das kreditfinanzierte Corona-Sondervermögen sollte der Landesregierung bis 2027 aus der Bredouille helfen. Mit seinem Urteil vom November 2023 setzte das Bundesverfassungsgericht dem allerdings ein Ende – im Bund und in den Ländern. Der Magdeburger Schattenhaushalt, ursprünglich knapp zwei Milliarden Euro, wurde wieder aufgelöst. Wie weiter? Der Landtag erklärte bereits im Dezember 2023 mit der Regierungsmehrheit von CDU, SPD und auch der FDP erneut eine „Notlage“, um auch 2024 Kredite aufzunehmen, eine Kreditaufnahme, die die Schuldenbremse eigentlich verhindern sollte. Während sich CDU und FDP im Bundestag unnachgiebig zeigen, sind sie in den Ländern, in denen sie regieren, deutlich geschmeidiger.

Haseloffs Ausweg aus der Klemme

„Ich bin für die absolute Einhaltung der Schuldenbremse“, bekennt Reiner Haseloff. Ein paar Sätze später konstatiert er: „Wir haben eine wirtschaftliche Notlage“, und weist den Ausweg aus der Klemme. Haseloff legt ein Bekenntnis zur Linie von CDU-Chef Merz ab und gibt gleichzeitig dessen Kritikern recht, die angesichts des russischen Angriffskrieges und der Wirtschaftsflaute für den Bundeshaushalt die Feststellung einer wirtschaftlichen Notlage fordern. Oder gar eine Reform der Schuldenbremse verlangen, wie Kai Wegner, Regierender Bürgermeister von Berlin.

Reiner Haseloff, inzwischen dienstältester Länderchef, gibt beiden Seiten recht und fährt damit selbst am besten. Die Mitteldeutsche aus Halle hat im Mai berichtet, dass der Landtag Ende des Jahres für 2025 abermals die Notlage erklären werde. Angesichts der AfD-Dominanz im Osten bei den Europa- und Kommunalwahlen dürfte dieser Schritt nur noch eine Formalie sein.

Ein Länderchef kann sich mit Buchungstricks über Wasser halten. Ein Landrat muss andere Wege gehen. Haseloffs Parteifreund Götz Ulrich ist eingeklemmt zwischen wachsenden Ausgaben, darbenden Gemeinden, einer auftrumpfenden AfD, die ihn im März auch persönlich bedroht hat, und durchwachsenen wirtschaftlichen Aussichten. Der Kreis-Chef muss Geld organisieren und idealerweise noch das Wir-Gefühl in seiner Region stärken.

Erst einmal hat Ulrich das Wir-Gefühl der elf Landräte in seinem Bundesland gestärkt und ist mit allen nach Schleswig-Holstein gereist. Ulrichs Idee: Wenn das Geld nicht reicht, muss man die Strukturen ändern. Und Schleswig-Holstein hat andere Strukturen. Im Unterschied zu Sachsen-Anhalt hat das nördlichste Bundesland nur eine zweistufige Verwaltung. Und so sind die Landräte auf Betriebsausflug die Landes- und Kommunalstrukturen im Norden durchgegangen und haben verglichen: Kommunalaufsicht, Katastrophenschutz, Brandschutz, Amt für Amt.

„Wir sind zu interessanten Ergebnissen gekommen“, sagt Ulrich nüchtern, dabei muss es ein Erweckungserlebnis gewesen sein. Denn im Burgenlandkreis wachen bei der Kommunalaufsicht 14 Beamte über die Finanzen der Gemeinden, oben im Norden sind es nur zwei, höchstens drei. „Die prüfen natürlich viel weniger, aber da ist eben auch viel mehr Vertrauen in die kommunale Selbstverwaltung.“ Und während in Sachsen-Anhalt für die Kontrolle der Landkreise im Landesverwaltungsamt ein ganzes Referat zuständig ist, fehle diese Ebene im Norden ganz.

Es geht nicht nur ums Geld

Geduldig kann Götz Ulrich die Eigentümlichkeiten der Kommunalverwaltungen erklären, auch das Ost-West-Gefälle. „Das rührt stark aus der DDR her, wo wir ja keine kommunale Selbstverwaltung hatten, sondern eine Überwachungsstruktur.“ Und natürlich habe man viele Mitarbeiter samt Stellen übernommen. Ulrichs Tenor ist klar: Weniger Gängelei, mehr Freiräume. „Damit wir insgesamt schlanker werden und dann auch mehr Geld für die kommunale Familie übrigbleibt.“

Dabei geht es nicht allein um Finanzen: Es finden sich keine Fachkräfte mehr. Seine Kreisverwaltung habe 60 offene Stellen. Manche Schule sei nur noch an vier Tagen geöffnet, die Klassen seien voll und tausend ukrainische Kinder müssten ebenfalls versorgt werden. Es fehlten zwanzig bis dreißig Lehrer.

Eigentlich müsste Ulrich, seit 2014 Landrat, tief seufzen. Bildungspolitik ist sein Herzensanliegen. Seit Jahren will Ulrich einen Bildungscampus in Naumburg errichten: Eine Sekundar-, eine Förder- und eine berufsbildende Schule unter einem Dach für die Fachkräfte von morgen. Eine Idee, bei der ihm auch Reiner Haseloff zur Seite steht.

Bei seiner nächsten Visite zaubert Haseloff einen Förderbescheid über 45 Millionen Euro aus dem Ärmel. Das Geld kommt aus dem „Just Transition Fund“, den die EU-Kommission aufgesetzt hat, um den Strukturwandel in der Kohleregion zu fördern. Eigentlich ist es egal, woher der Geldsegen kommt. Hauptsache, er kommt nicht aus Magdeburg.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.

Ihren Kommentar hier eingeben