Schuldbewußte Normalität

■ Tagung der Psychoanalytiker in Hannover

Die Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft (DPG) tagte in Hannover. Das Thema des Kongresses hieß „Hassen und Versöhnen“. Psychoanalytische Erkundungen zum Verhältnis von Deutschen und Deutschen, Deutschen und Juden, Männern und Frauen, Eltern und Kindern. Wissenschaftsreisen in die sensible Mechanik von Haß und Liebe, Gewalt und Unterwerfung, ergänzt durch Referate aus anderen Disziplinen, durch Beiträge von Historikern, Anthropologen und Philosophen.

Der Mediziner und Analytiker Joachim Maaz aus Halle untersuchte die sozialen Ereignisse in der ehemaligen DDR seit dem Oktober 89 mit psychoanalytischen Kategorien und bewies, daß die in der DDR verpönte „bürgerliche Wissenschaft“ gleichwohl ihre Anhänger hatte. Die Repression in Familie und Gesellschaft bewirkte seiner Ansicht nach bei der Mehrheit der Bevölkerung einen „Gefühlsstau“, der verhängnisvollerweise auch in der „friedfertigen Revolution“ nicht ausgelebt wurde, als der Prozeß der Demokratisierung umschlug in „Deutschland einig Vaterland“. Die schnelle Selbstaufgabe des Systems, die bisher eine „wirklich aggressive Aufarbeitung“ der Vergangenheit verhindert hat, sei Ursache von Fremdenhaß einerseits, Zunahme von Delinquenz und psychosomatischen Erkrankungen andererseits. Eine kollektive Verdrängung finde jetzt statt, die den größten Teil der Bevölkerung von der Täter- in die Opferrolle manövriere, Vergangenheitsbewältigung verhindere und Trauerarbeit unmöglich mache.

Gerda Lederer aus Hamburg räumt mit einem anderen Mythos in der DDR auf, dem der antifaschistischen Tradition. Antisemitismus und Fremdenhaß weist sie nach, indem sie Gemeinsamkeiten zwischen Österreich und der DDR bei der Nichtbewältigung der NS-Vergangenheit herausarbeitet. Historisch erwiesen ist, daß sowohl Österreich (damals Ostmark) als auch die ehemalige DDR als Teil des Dritten Reiches sich aktiv an der Judenverfolgung beteiligten; daß auch hier nach dem Krieg das Gros der Bevölkerung aus der Täter- in die Opferrolle überführt wurde. Österreich war offiziell „annektiert“ und „befreit“ worden, die DDR behauptete für sich mit der sozialistischen Moral zugleich die antifaschistische Tradition. Die kleineren Nazis wurden generalamnestiert. Durch eine einfühlsame Analyse offizieller Sprachcodes in beiden Staaten weist Lederer nach, daß weder in der DDR noch in Österreich Juden- und Fremdenfeindlichkeit wirklich beseitigt wurden. Jüngste neonazistische Ausschreitungen in Ost-Berlin bekommen im Licht dieser Ausführungen eine ganz andere Plausibilität.

Der israelische Psychoanalytiker Rafael Moses wollte es der DPG nicht ersparen, über ihre eigene, zum Teil schmerzliche Geschichte zu sprechen. Die DPG, im Jahre 1910 gegründet, zwang 1933 auf Drängen der Nationalsozialisten ihre jüdischen Mitglieder, den Vorstand und die Gesellschaft zu verlassen. Zwar löste sie sich 1938 selbst auf, aber prominente Mitglieder forschten am Göring-Institut weiter im Sinne der verordneten Ideologie. 1945 wurde die DPG wiedergegründet, 1950 spaltete sich die Deutsche Psychoanalytische Vereinigung (DPV) von ihr ab, die durch diesen geschickten Schachzug Anschluß an die Internationale der Psychoanalytiker fand (IPG). Die DPV nahm für sich in Anspruch, Gralshüter der reinen Lehre Freuds zu sein und die wahre Psychoanalyse zu betreiben. Damit gelang es ihr, sich zugleich von der belastenden braunen Vergangenheit zu befreien; die wird noch bis heute immer nur mit der DPG in Verbindung gebracht. Problematisch auch, daß die DPG ihre psychoanalytische Praxis lange Zeit auf die sehr viel direktivere Methode der Neo-Psychoanalyse von Schultz-Hencke stellte, in der das Verhältnis von Analytiker und Analysand viel Ähnlichkeit mit der Beziehung von Arzt und Patient hat und in der die Bedeutung des Unbewußten und der frühkindlichen Sexualität nicht den hervorragenden Stellenwert wie in der Freudschen Lehre besitzt.

Moses, der sich zwar nicht als zensierendes „Über-Ich“ einführen wollte, mochte den Mitgliedern der DPG doch nicht die entscheidenden Fragen zu ihrer Geschichte und wie sie denn heute Psychoanalyse betreibe, ersparen. Ein Anstoß zur Selbsterforschung, die in einer der zahlreichen Arbeitsgruppen, die der Kongreß neben den Referaten eingerichtet hatte, unter dem Thema „Wie deutsch und wie psychoanalytisch ist die DPG“ weitergetrieben wurde.

Rafael Moses' Vortrag wurde ergänzt durch ein Koreferat von Michel Ermann aus München, dem Vorsitzenden der DPG, und von Ausführungen zum Problem der deutschen Identität durch den Medizinsoziologen Hannes Friedrich, dessen Mitverfasser Hajo Funk vom Otto-Suhr-Institut in Berlin war. Bei der sich daran anschließenden großen Diskussion klang es oft recht anachronistisch vom Podium. In Anlehnung an Thomas Mann, der vom „Bruder Hitler“ in uns gesprochen hatte, hieß es, man müsse den „Bruder Jude“ in sich suchen, sich besinnen auf den eminenten Einfluß jüdischer Gelehrter, Künstler und Dichter (als ob das nicht längst geschehen wäre), auf die genuine jüdische Exegese im Umgang mit schriftlichen Texten, auf das Tragische menschlicher Existenz und auf Freuds skeptisches Wissen um die „Heillosigkeit der Welt“. Eine Form der Idealisierung und Überhöhung, die, wie wir nur allzu genau wissen, in der neuerlichen Zuschreibung eines Sonderstatus die Gefahr der feineren Form des Antisemitismus birgt.

Dagegen wandte sich denn auch vehement David Becker, für den eine jüdische Psychoanalyse ebenso verquer ist wie eine deutsche Physik, und der Normalität ohne verdrängte Schuldgefühle einklagte. Becker gehört als einziger Deutscher zu einem Team chilenischer Psychotherapeuten, die in Chile Opfer der politischen Verfolgung behandeln. Er referierte aus seiner „Arbeit mit Extremtraumatisierten“ dort. Trauma bezeichnet in der Freudschen Terminologie ein Ereignis im Leben, ohne die „Fähigkeit des Subjekts, adäquat darauf zu reagieren“. Zwar wird in Chile schon lange von „reconciliacion“, also Versöhnung gesprochen, aber die aktuelle Realität bleibt weiterhin traumatisierend. Pinochet ist immer noch oberster General des Heeres. Nach Becker kann es ohne Haß, ohne „gesunde Aggression“ keine wirkliche Versöhnung geben. Erst wenn die Schuld angeklagt und öffentlich verhandelt und besprochen ist, kann individuelle und kollektive Trauerarbeit stattfinden. Ein Problem, das — wie man gesehen hat — nicht nur für Chile gilt.

Becker war es auch, der auf die Frage, inwieweit er das Thema des Kongresses durch die Beiträge eingelöst sehe, den Begriff der Versöhnung im Zusammenhang mit bestimmten Geschehnissen für verlogen hielt. Im Angesicht unmenschlicher Ungeheuerlichkeiten dürfe es keine Versöhnung geben, weil das Grauen nie aufhöre. Reparation und Wiedergutmachung könnten die Wunden nicht wirklich schließen. Sinnvoll sei nur, nicht zu vergessen und auszuhalten, was nicht wiedergutzumachen sei. Michael Stoeber