Schüsse an Sylvester: Gutachten entlastet Polizisten
Gutachten im Fall des Schönfließer Sylvesterschützen: Der Polizist könnte in Notwehr geschossen haben. Doch für den Nebenklagevertreter ist das ein "reines Spekulationsgutachten".
Als der Unfallsachverständige am Ende des vierten Prozesstages seine Akten zusammenpackt, wirkt der angeklagte Polizeikommissar Reinhard R. richtig gut gelaunt. "Seht her, ich bin entlastet", scheinen Miene und Körperhaltung zu sagen, als er zurückgelehnt den Blick durch den Saal schweifen lässt. In den Vortagen, als Aussagen von Schönfließer Anwohnern die Angeklagten belasteten, bildeten sich auf R.s Wangen immer wieder dunkelrote Flecken.
R. muss sich vor dem Landgericht Neuruppin wegen Totschlags verantworten. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm vor, am Silvesterabend 2008 in Schönfließ den 26-jährigen Neuköllner Dennis J. erschossen zu haben, als er den mit mehreren Haftbefehlen Gesuchten festnehmen wollte, der in einem gestohlenen Jaguar saß. Zwei weitere Polizisten, die damals mit R. als Zivilfahnder unterwegs waren, sind wegen versuchter Strafvereitelung angeklagt.
An diesem Donnerstag wird der Unfallsachverständige Ulrich Wanderer gehört. Sein Auftrag war es, die Bewegungsabläufe der drei Polizisten und die des Autos zu rekonstruieren. Der Hauptangeklagte beruft sich darauf, aus Notwehr auf J. geschossen zu haben, weil er sein Leben und das seiner Kollegen durch den Pkw bedroht gesehen habe. Die zentrale Frage: Parkte das Auto mit abgeschaltetem Motor oder fuhr es bereits, als der tödliche Schuss fiel? Wanderer geht in seinem Gutachten davon aus, dass der Jaguar fuhr, zunächst gegen eine kleine Mauer prallte und "der Schuss erst nach dem Zurücksetzen gefallen sein kann". Er stützt sich dabei auf den Fundort der Glassplitter der von dem Schuss zerstörten Fahrerfensterscheibe.
Aber der Unfallsachverständige Wanderer verwies auch darauf, dass J. den Beamten auch hätte umfahren können, und vielleicht sei J. ja auch deshalb in die Mauer gefahren, weil er R. gerade "nicht über den Haufen fahren wollte".
Noch vor Wanderers Anhörung kommt es im Gerichtssaal zum Eklat: Die Anwälte der Nebenkläger - der Familie des Getöteten - lehnen den Gutachter wegen Befangenheit ab. Während des Ermittlungsverfahrens habe dieser für die Verteidiger des Hauptangeklagten in derselben Sache ein Privatgutachten erstellt, moniert Anwalt Friedhelm Enners. Wanderer müsse "seine Auftraggeber befriedigen und sein Gehalt rechtfertigen".
Das Gericht hört Wanderer trotzdem an. Dass der die Bewegungsabläufe nicht nur rekonstruiert, sondern auch Einschätzungen abgibt, scheint aber auch dem Vorsitzenden Richter Gerdt Wegener zu weit zu gehen. "Die Beweiswürdigung nimmt das Gericht selber vor", weist er den Gutachter in die Schranken. Verwundert äußern sich die Staatsanwälte: Wanderer lege seiner Rekonstruktion zwar die Aussagen der Angeklagten zugrunde, nicht aber die der 15-jährigen Belastungszeugin Antonia S.
Für Nebenklagevertreter Enners handelt es sich um ein "reines Spekulationsgutachten". Er könne keine Notwehrsituation erkennen. Enners bleibt dabei: Dennis J. wurde "nach allen Regeln der Kunst abgeknallt".
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