Schriftstellerin Julie Zeh: Die Bewahrerin
Die Schriftstellerin Julie Zeh ist eine prominente Streiterin gegen staatliche Überwachung. Doch sie kämpft vor allem für die Freiheit der Wohlhabenden.
Kaum nähern sich notorisch kamerapräsente Protagonisten der früheren Generationen, Alice Schwarzer etwa oder Günter Grass, allmählich dem Ruhestand, scheint Juli Zeh entschlossen, in die entstehende Lücke zu stoßen. Der NSA-Skandal bot ihr eine gute Gelegenheit, zum Thema Überwachung hatte Zeh bereits, zusammen mit Ilija Trojanow, 2009 ein Buch vorgelegt. Während ihr Appell an Bundeskanzlerin Merkel im letzten Sommer eher belächelt wurde, gelang es ihr, mit der Petition „Die Demokratie verteidigen im digitalen Zeitalter“ eine eindrucksvolle Liste von internationalen Großschriftstellern zu mobilisieren.
Landauf, landab wurden ihre Aktivitäten als ein Beleg für die Repolitisierung von Schriftstellerinnen und Schriftstellern gelesen, ja, die Figur des „klassischen Intellektuellen“ sei wieder erstanden, schreibt etwa Iris Radisch in der Zeit. Zehs Engagement braucht Inszenierung, sie geriert sich ein wenig als Jeanne d’Arc des digitalen Zeitalters. In einer von Medienbildern abhängigen Welt ist so etwas legitim, wenn diese Mittel den guten Zweck heiligen. Tun sie das aber hier?
Das Role Model des engagierten Autors, das Zeh zitiert, wurde in den neunzehnhundertsechziger und -siebziger Jahren durch Personen wie Böll, Walser und letztlich auch Grass ausgefüllt, die in ihren öffentlichen Stellungnahmen einen hohen moralischen Anspruch anlegten, von dem ebenso ihr literarisches Werk zeugte. Da Juli Zeh sich hier einreiht, sollte man von ihr Ähnliches erwarten. Wofür steht sie überhaupt? Welche Werte vertritt sie in ihren Schriften zu Politik und Gesellschaft?
Vor dem erwähnten „Angriff auf die Freiheit“ war bereits 2006 ein Sammelband unter dem Titel „Alles auf dem Rasen“ erschienen, auch veröffentlichte Zeh bis 2007 regelmäßig Essays in der Zeit. Seitdem äußert sie sich in Interviews und Manifesten.
Der beste aller Staaten
Auffällig an Zehs schriftstellerischem Politikverständnis ist, dass sie sich geradezu zwanghaft auf dem Boden der Realpolitik bewegt. Voltaires Philosophen Pangloß gleich geht sie nimmermüde mit dem Gedanken hausieren, wir lebten vielleicht in „keiner guten, jedoch in der besten aller denkbaren Staatsformen“, wie sie in „Alles auf dem Rasen“ schreibt. Eine bessere Welt möchte sie sich also nicht einmal vorstellen. Verwunderlich, denn gerade Künstlerinnen und Künstlern steht in Demokratien die Möglichkeit offen, gesellschaftliche Utopien zu entwickeln, ohne sich einer partei- oder klientelgebundenen Denkdisziplin unterwerfen zu müssen. Ihnen steht es frei, sich mit dem Status quo nicht abzufinden, sondern ihn fundamental zu kritisieren, ohne unmittelbare Folgen zu gewärtigen.
Sie brauchen sich nicht mit den Funktionären des Common Sense auf Debatten über falsche und weniger falsche Lösungen einzulassen, sie können denken, was sie wollen – auch das gehört zum erwähnten Role Model. Nicht so bei Juli Zeh. Sie ist überzeugte Parteigängerin der westlichen Staaten in ihrer aktuellen Verfassung, sieht uns Europäer gar als „Nutznießer einer in Erfüllung gegangenen Utopie“, die es nun zu bewahren gelte. Im Zeichen einer grassierenden Umverteilung von unten nach oben, angesichts von rund 13 Millionen armutsgefährdeten Deutschen, erscheint diese Haltung reichlich realitätsvergessen, zumal die Krise auf anderen europäischen Ländern noch viel schwerer lastet.
Für Juli Zeh sind dies die notwendigen Härten der freien Welt, in einem Essay erklärt sie: „Man kann aber nicht Speck haben und das Schwein behalten – nicht die Freiheiten des Kapitalismus genießen und gleichzeitig nach einer sicheren Kuschelwelt verlangen.“ Hier würden Angela Merkel und Philipp Rösler sicher zustimmen.
Enno Stahl, 51, ist Journalist und Autor, er lebt in Neuss. In seinem aktuellen Buch „Diskurspogo“ (Verbrecher Verlag) untersucht er, wie sich die gesellschaftlichen Veränderungen und die aktuelle Politik in der deutschen Gegenwartsliteratur wiederfinden. Seiner Meinung nach zu wenig.
Die Zitate stammen aus Juli Zehs Büchern „Angriff auf die Freiheit“ (Hanser Verlag) und „Alles auf dem Rasen“ (Schöffling & Co.).
An anderer Stelle warnt Zeh den Staat vor Versuchen, „mit politischen Instrumenten erzieherisch“ auf die Wirtschaft einwirken zu wollen und sie isoliert von der Gesellschaft zu betrachten als „eine Art selbständiges, schwer zu bändigendes Wesen“. Das nämlich sei sie nicht, vielmehr seien Wirtschaft und Gesellschaft miteinander verflochten. Hier hat sie natürlich recht, aber wie die Praxis zeigt, fallen „erzieherische“ Versuche des Staates ohnehin eher halbherzig aus, schließlich sind die politischen Parteien für gewöhnlich mit Lobbyisten der verschiedensten Interessengruppen durchsetzt. Darüber schweigt Juli Zeh, die mit der Wirtschaftsmacht auch gar keine grundsätzlichen Probleme hat: „Um Missverständnisse zu vermeiden: Hier soll nicht in antikapitalistischer Absicht die Bedeutung ökonomischer Zusammenhänge für unser Leben kritisiert werden.“
Diesem Missverständnis aufzusitzen fällt bei Lektüre ihrer Essays schwer. Denn im Umkehrschluss folgt aus ihren Ausführungen, dass man der Wirtschaft das Feld zu überlassen habe, die unsichtbare Hand der Marktkräfte regele dann schon unser Wohlleben. Dass dies in der Praxis nicht funktioniert, ist inzwischen bekannt, Profiteure und Notleidende dieses Wirtschaftens verteilen sich alles andere als paritätisch. Es ist hilfreich, sich vor Augen zu führen, welchen Teil der Bevölkerung Juli Zeh mit ihren Argumenten im Auge hat.
Literatur für Entscheider
Wenn sie etwa propagiert, dass es für das Funktionieren eines ökonomischen Systems sehr wichtig sei, „was die Menschen kaufen, wann, wie und wie viel sie am liebsten arbeiten und womit sie ihre freie Zeit verbringen“, dann richtet sich das offensichtlich an eine Gruppe, die darüber überhaupt entscheiden kann: Leute, die sich mehr leisten können, als nur Grundnahrungsmittel im Discounter zu kaufen; Leute, die über ihre Arbeit und ihre Freizeit eigenständig verfügen und nicht in einem Korsett aus Zwängen und Druck gefangen sind; Leute, die eine Arbeit haben und nicht erwerbslos sind, ausgeschlossen von gesellschaftlicher Teilhabe, abgehängt.
Solche sozialen Probleme zu lösen liege – so Zeh – aber nicht in der Hand der Politik, das müssten die Einzelnen schon selber richten, das Anspruchsdenken gegenüber der Politik müsse aufhören. Die politischen Funktionäre sollten stattdessen Sachen entscheiden, die sie wirklich beeinflussen könnten, außenpolitische Grundsatzentscheidungen, innere Sicherheit und Atomausstieg.
Die Wirtschaft zu lassen, wie sie ist, das Überleben der gesellschaftlich Schwächeren deren eigener Findigkeit zu überantworten, was ist daran eigentlich nicht marktradikal? Die wüstesten Vertreter des Wirtschaftsliberalismus würden es nicht anders formulieren. Kritische Autorinnen und Autoren wähnt man eigentlich an der Seite der Schwachen, wie zum Beispiel Ingo Schulze es eindrucksvoll vorführt – ist nicht Literatur als weiche Gegenmacht konnotiert? Als Verfechterin humanitärer Werte gegen die Hegemonie von Politik und Geschäftswelt?
Juli Zehs „Angriff auf das digitale Imperium“ ist völlig anders geartet. Ihr vehementer Kampf für die Bürgerrechte verschleiert, dass es ihr um alle Bürger gar nicht geht. Wenn man ihre eigenen Ausführungen nachvollzieht, begreift man, welche „Freiheit“ in der von Zeh gestarteten Petition gegen die NSA gemeint ist, es ist jene Freiheit, die ein Heer von Ausgeschlossenen in den europäischen Gesellschaften längst verloren hat. Es ist die Freiheit, von der Joachim Gauck, Bundespräsident, auch immer redet. Die Freiheit der Wohlhabenden.
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