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Schriftsteller über ein Jahr Assad-Sturz„Es gibt jetzt wieder eine Seele in Syrien“

Yassin al-Haj Saleh hat sein Leben lang gegen die Assad-Diktatur gekämpft und saß 16 Jahre im Gefängnis. Wie blickt er auf die neuen Herrscher und die Zukunft Syriens?

In Damaskus feiern Menschen den ersten Jahrestag des Sturzes von Baschar al-Assad Foto: Ghaith Alsayed/ap/dpa
Leon Holly

Interview von

Leon Holly

taz: Seit dem Sturz Assads vor einem Jahr sind Sie zweimal aus Deutschland, wo Sie derzeit wohnen, nach Syrien zurückgereist. Was für ein Land haben Sie dort vorgefunden?

Yassin al-Haj Saleh: Als ich letzten Dezember dort war, kam mir das Land formlos vor. Ziemlich heruntergekommen, viel Armut. Wenn man durch die Straßen von Damaskus läuft, sieht man extreme Umweltverschmutzung. Später wurde mir klar, dass das daran liegt, dass die Menschen im Winter alles verbrennen, um sich zu wärmen. Plastik, Kleidung, einfach alles. Aber die Menschen, die ich traf, waren hoffnungsvoll. In meiner Jugend erschien mir Syrien als seelenloses Land. Oder: Die einzige Seele des Landes war der Diktator Hafis al-Assad und dann später sein Sohn Baschar. Sehr hässliche Seelen. Aber jetzt gibt es eine Seele in Syrien: Begeisterung, Wärme, Hoffnung.

Bild: Privat
Im Interview: Yassin al-Haj Saleh

wurde 1961 in Rakka, Nordsyrien, geboren. Saß von 1981 bis 1996 wegen Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei im Gefängnis. Seit 2017 lebt er in Berlin im Exil. Sein Buch „The Impossible Revolution“ behandelt das Scheitern der syrischen Revolution. Zuletzt auf Deutsch erschien im Matthes & Seitz Verlag der Essay „Hannah Arendt in Syrien“.

taz: Als wir 2021 zum ersten Mal sprachen, war Ihre Stimmung sehr gedrückt, denn die syrische Revolution war gescheitert. Hatten Sie noch Hoffnung, dass wir den Sturz des Tyrannen erleben würden? Und dann auch noch so schnell?

al-Haj Saleh: Nein, überhaupt nicht. Und ja, Sie haben recht. Ich dachte, wir seien besiegt worden. Einige meiner Freunde haben mich nach dem Sturz des Regimes kritisiert, denn sie sahen darin einen Sieg der Revolution. Ich bin immer noch nicht ganz dieser Meinung. Ich glaube, dass Hai’at Tahrir asch-Scham (HTS), die neue Gruppe an der Macht, die Revolution besiegt hat, bevor sie das Regime besiegt hat. Es war großartig, dass das Regime gestürzt wurde. Aber es ist ein Sieg von etwas anderem, nicht von dem syrischen Aufstand, der nach einem inklusiven politischen System gestrebt hat. Ich bin offen für alle, die sagen, dass Revolutionen einen Zickzackkurs nehmen und niemals geradlinig verlaufen. Dennoch bin ich ziemlich skeptisch, dass es eine Kontinuität gibt zwischen der syrischen Revolution 2011/12 und dem Sturz des Regimes im Dezember 2024.

taz: Warum?

al-Haj Saleh: Die heutigen Machthaber sind Islamisten. Vor Jahren waren sie salafistische Dschihadisten. Das sind sie heute nicht mehr, mit einigen Ausnahmen. Ich befürchte jedoch, dass die Extremisten in ihren Reihen eine unmittelbare Gefahr für das Land darstellen. Es gibt viele Gefahren. Aber sie sind eine davon. Für mich geht unser jahrzehntelanger Kampf also weiter. Auf einer Ebene gibt es mehr Menschen, die sich am öffentlichen Leben beteiligen, was eine gute Sache ist. Um die Meinungs- und Debattenfreiheit steht es okay, sie ist besser als seit Jahrzehnten. Aber wir haben auch zwei Wellen von Massakern hinter uns, mit 1.500 Opfern im März gegen die alawitische Gemeinschaft und einer ähnlichen oder etwas höheren Zahl unter den Drusen. Diese Massaker haben bereits die Aussichten getrübt auf ein vereintes Syrien mit einem politischen System, das alle einschließt.

taz: Glauben Sie, dass diese Massaker stattfanden, weil die oberste Führung von HTS und ihr Anführer Ahmed al-Scharaa dies wollten oder weil sie keine Kontrolle über ihre eigenen Männer haben?

al-Haj Saleh: Ich glaube eher, dass sie die Situation nicht unter Kontrolle haben. HTS ist die mächtigste Partei im Land, aber sie ist kein echter Staat mit einem Gewaltmonopol. Diese beiden Wellen von Massakern sind unterschiedlich. Die an der Küste wurde nicht von HTS ausgelöst. Zuerst gab es Angriffe von Anhängern des Assad-Regimes auf Sicherheitskräfte. Mehr als 200 oder 300 von ihnen wurden getötet, aber es gab abscheuliche Verbrechen. Viele Alawiten wurden angegriffen oder getötet, nicht weil sie etwas Bestimmtes getan hatten, sondern weil sie Alawiten waren.

taz: Und die Massaker an den Drusen in Suwaida im April und Mai?

al-Haj Saleh: Suwaida ist ein bisschen anders. Meiner Meinung nach war das zu 100 Prozent vermeidbar. Auch dort gab es schlimme Verbrechen. Ich würde nicht sagen, dass HTS das wollte. Aber Außenminister Schaibani sagte, es sei eine Falle gewesen –ohne zu sagen, wer diese Falle gestellt hatte. Und es ist nicht akzeptabel, dass die Regierung ihre Fehler rechtfertigt, indem sie auf mögliche Fehler einer anderen Partei verweist. Sie sind die öffentliche Gewalt im Land und dürfen sich nicht verhalten wie ein Stamm, eine Sekte, eine Bande oder was auch immer.

taz: Vor einigen Wochen begann in Damaskus ein Prozess, bei dem mutmaßliche Täter beider Seiten vor Gericht stehen. Darüber wurde berichtet, auch in der taz. Viele Syrer im Internet sind aber sehr skeptisch, ob es die Regierung mit der Aufarbeitung ernst meint.

al-Haj Saleh: Um ganz ehrlich zu sein, ich weiß es nicht. Die Machthaber sind nicht transparent, und wir wissen nicht, nach welchen Kriterien diese Menschen vor Gericht gestellt wurden, ob sie wirklich die Verantwortlichen für die Verbrechen waren. Ich denke, dass es grundsätzlich ein guter Schritt nach vorne ist. Aber ich kann nicht sicher sagen, dass es mit gutem Gewissen geschieht. Ich stimme aber auch nicht überein mit der zynischsten Analyse, die viele Syrer vertreten. Wir sind eine extrem polarisierte Gesellschaft, besonders nach den Massakern. Daher sind viele Menschen extrem misstrauisch gegenüber allem, was in ihrem Land geschieht.

taz: Die Frage der Minderheiten – der Kurden und Drusen, aber auch der Alawiten – ist derzeit eine der drängendsten. Es scheint möglich, dass zu einer Art Abkommen oder Integration kommt, aber auch, dass es sich zu einem neuen Krieg zuspitzt.

al-Haj Saleh: Das wäre das schlimmste denkbare Szenario für das Land. Die syrische Gesellschaft ist sehr erschöpft. Und der Wiederaufbau wäre gefährdet, wenn es zu einer dritten Welle von Gewalt, Morden, Hass käme. Das Problem ist struktureller Natur. Zunächst einmal haben wir 14 Jahre Kampf, Revolution, Krieg und Interventionen vieler ausländischer Mächte hinter uns, mehr als eine halbe Million Opfer. Jetzt, nach dem Sturz des Regimes, sehen wir die Konzentration der Macht in den Händen der Sunniten, die während all den Jahren des Krieges mehr als andere zu leiden hatten.

taz: Was folgt, wenn HTS die Sunniten bevorzugt?

al-Haj Saleh: Man kann die Macht nicht in den Händen eines Teils der Bevölkerung konzentrieren – auch wenn es vielleicht zwei Drittel oder 70 Prozent der Bevölkerung sind –, ohne die anderen zu entfremden. Und die Ausschreitungen an der Küste und in geringerem Maße auch in Suwaida hängen mit dieser Machtkonzentration zusammen. Syrien ist in vielerlei Hinsicht eine pluralistische Gesellschaft. Es kann also nicht von einer Gruppe regiert werden, seien es Alawiten oder Sunniten oder Kurden oder wer auch immer. Das kann nicht funktionieren, das wird nicht funktionieren. Das ist also die strukturelle Frage, die angegangen werden muss, um einen weiteren Krieg zu vermeiden.

taz: Im Oktober fanden Parlamentswahlen statt. Aber nur sehr wenige Menschen konnten tatsächlich wählen und auch die nur einen Teil aller Abgeordneten. Sie haben gesagt, dass al-Scharaa nicht daran interessiert ist, echte Demokratie nach Syrien zu bringen.

al-Haj Saleh: Natürlich nicht. Nein, er ist kein Demokrat. Er ist, wie man überall hört, ein Pragmatiker. Pragmatismus bedeutet hier, dass er flexibel genug ist, um an der Macht zu bleiben. Die Priorität liegt nicht auf Ideologie oder Religion. Die Priorität liegt auf Macht. Und dieses Spiel hat er bisher recht geschickt gespielt. Ich hoffe, dass sein Pragmatismus dazu führen wird, dass der Staat vernünftiger mit seinen Bürgern umgeht. Das Wichtigste ist, dass wir keine Folter, keine Demütigung der Menschen sehen.

Um den Säkularismus zu verteidigen, muss man die Demokratie verteidigen.

Yassin al-Haj Saleh

In einem Text für Qantara haben Sie spekuliert, dass das zukünftige Regierungssystem Syriens wie eine moderne Version des osmanischen Millet-Systems aussehen könnte. Wie meinen Sie das?

al-Haj Saleh: Das bedeutet, dass religiöse und ethnische Gemeinschaften durch ihre religiösen oder sozialen Anführer vertreten werden. Stämme und Scheichs zum Beispiel unter den Sunniten. Oder einige wohlhabende Menschen oder solche, die aus irgendeinem Grund prominent sind. Und dasselbe gilt für christliche Religionsführer und für Alawiten. Sehen Sie, das ist die Art und Weise, wie Islamisten Offenheit zeigen. Das ist ihre Art der Repräsentation. Die Islamisten sehen die Gesellschaft als Gefüge von Religionen und ethnischen Gruppen. Sie denken, dass Syrien aus Muslimen und Christen, Arabern und Kurden, Sunniten und Alawiten, Drusen und Ismaeliten besteht. Und sie werden diesen Gemeinschaften Anteile der Macht und ein gewisses Maß an Autonomie zugestehen. Aber die Macht wird sich um den sunnitischen Islam konzentrieren.

taz: Das alles ist weit entfernt von dem linken Säkularismus, den Sie sich für Syrien wünschen würden. Es scheint, als sei diese Strömung in der syrischen Politik von Assad und dem Krieg zerschlagen worden. Sehen Sie Anzeichen für eine Wiederbelebung?

al-Haj Saleh: Das Problem in Syrien ist seit Jahrzehnten, dass der Säkularismus in der Regel ausschließlich gegen den sunnitischen Islam in Stellung gebracht wird. Viele Intellektuelle waren an dieser Unehrlichkeit beteiligt. Zudem haben sich viele Säkularisten auf die Seite des Assad-Regimes gestellt, worunter die Glaubwürdigkeit und der Ruf des Säkularismus gelitten haben. Um den Säkularismus zu verteidigen, muss man die Demokratie verteidigen. Und in Syrien gibt es seit Jahrzehnten eine Spaltung zwischen den beiden. Diejenigen, die den Säkularismus verteidigen, kümmern sich nicht um Demokratie. Und vielleicht gilt auch das Gegenteil: Viele, die die Demokratie verteidigen, verteidigen nicht den Säkularismus. Jetzt haben wir also eine islamische Diktatur.

taz: Im Krieg wurden Ihnen nahestehende Menschen entführt – Ihre Frau Samira, enge Freunde und Ihr Bruder –, wahrscheinlich von einer islamistischen Miliz. Haben Sie Hoffnung, dass ihr Schicksal jetzt aufgeklärt wird?

al-Haj Saleh: Dschaisch al-Islam, die für die Entführungen verantwortlich sind, sind jetzt mit an der Macht. Sie sind Teil der neuen Regierung. Die Beziehung zwischen ihnen und HTS war in der Vergangenheit ziemlich schlecht, es gab sogar gewalttätige Auseinandersetzungen. Aber jetzt sind sie, zumindest offiziell, in der Regierung. Daher sind meine Hoffnungen auf Aufklärung begrenzt. Aber es geht nicht nur um mich und meine vermisste Frau und meine Freunde. In Syrien werden wohl 160.000 Menschen vermisst, die meisten von ihnen entführt durch das Regime, aber auch durch eine Reihe anderer militärischer Gruppen. Weil es laute Stimmen in der Gesellschaft gab, hat die neue Regierung einen Ausschuss für „transitional justice“ („Vergangenheitsarbeit“) und einen weiteren Ausschuss für verschwundene Personen ins Leben gerufen. Ich weiß nicht, ob sie in diesen Fragen etwas Konkretes unternommen haben. Ich persönlich wurde noch nicht angesprochen.

taz: Es gibt wohl kein größeres Symbol für den Sturz des assadistischen Folterregimes als die Öffnung der Kerker im Saidnaya-Gefängnis. Wie haben Sie sich dabei gefühlt, als jemand, der selbst als Kommunist unter Hafis al-Assad 16 Jahre lang im Gefängnis gesessen hat?

al-Haj Saleh: Meine persönliche Haftzeit ist schon lange her. Ich wurde 1996 freigelassen, fast 28 Jahre vor dem Sturz des Regimes. Ich war natürlich sehr glücklich, als ich die Fotos und Videos von den befreiten Menschen sah. Bei meinem ersten Besuch in Syrien bin ich mit Freunden nach Saidnaya gefahren. Das war eine sehr gute Erfahrung. Ich kann mich auf einer anderen Ebene in die Familien, in die Väter und Mütter der Vermissten hineinversetzen. Gleichzeitig verspürte ich tief in meinem Inneren eine gewisse Bitterkeit, denn meine Hoffnungen für meine Frau, meine Freunde und meinen Bruder hatten nichts mit Saidnaya zu tun, da sie nicht vom Regime verschleppt worden sind.

taz: Wie hat der Sturz Assads Ihre eigene Arbeit als Schriftsteller verändert?

al-Haj Saleh: Ich befinde mich in einer Art Identitätskrise, weil ich meinen Feind verloren habe. Seit meiner Jugend, seit 1977, war ich am Kampf gegen das Assad-Regime beteiligt. Also habe ich 47 Jahre meines Lebens in diesem Kampf verbracht. Das hat einen wichtigen Teil meiner Identität ausgemacht. Zweitens besteht meine Hauptaufgabe als Schriftsteller darin, Instrumente zu entwickeln, um die Situation in Syrien zu verstehen. Und ich habe das Gefühl, dass ich mehr Zeit brauche, um bessere Instrumente zu schaffen.

taz: Sie haben mal gesagt, dass Sie in Bezug auf die Zukunft weder pessimistisch noch optimistisch sind, sondern „interaktiv“. Was bedeutet das?

al-Haj Saleh: Im Arabischen gibt es eine schöne etymologische Verbindung zwischen diesen drei Begriffen. Ich halte Optimismus für dumm und Pessimismus für egoistisch und unethisch. Ich mag keine Pessimisten, sie irritieren mich. Die Idee ist also, interaktiv zu sein, mit den sich verändernden Situationen zu interagieren. Eine Bewegung zu halten zwischen dem, was in der Wirklichkeit geschieht, und den eigenen Gefühlen und Affekten. Ich möchte meinen Verstand und mein Herz offen für das halten, was geschieht, um besser zu verstehen.

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