Schriften zu Zeitschriften: Liebe dein Symptom
■ Paranoia als Sinnkonstrukt, Frankfurter Stadtangst, verdeckte Ermittler
„Paranoia macht Sinn“, schreibt Michael Rutschky im Editorial des Alltag. „Und zwar da, wo vorher keiner war, im alltäglichen Durcheinander.“ Der Schriftsteller, der sich bei Preisverleihungen systematisch übergangen fühlt; der Privatmann, den die Angst vor Entführungen den öffentlichen Raum meiden läßt; der äußerst kritische Konsument, der aus Angst vor vergifteten Lebensmitteln verhungert – zu diesen erfundenen Paranoiker-Fallgeschichten des Schriftstellers Jochen Schimmang im Alltag fügt sich ohne weiteres der wohl wahre Bericht der Akademikerin Ina Hartwig über ihren Kleinkrieg gegen lärmende Nachbarn im proletarisch- kleinbürgerlichen Berlin-Wedding.
Noch mehr als sonst ist die Paranoia-Nummer des Alltag ein Heft der literarisch veredelten Idiosynkrasien. Zwar darf sich auch ein Wünschelrutengänger ausbreiten, doch Publizisten-Paranoia herrscht vor. Ein Beitrag über die Stasi als deutsch-demokratische Paranoia fehlt erstaunlicherweise.
Daneben gibt es werbewirksame Frühstückstische. Beim Tee von Fortnum & Mason und dem Vitalis-Früchtemüsli der Firma Dr. Oetker blickt Stephan Wackwitz aus dem Fenster auf den Bayerischen Wald und gerät träumend vom Hölzchen aufs Stöckchen, bis aus dem Hinterholz dessen, was anfangs wie ein Gelegenheitsaufsätzchen wirkt, eine Erkenntnis ans Licht tritt. Seine Tagträumerei, in der alles mit allem kommuniziert, erweist sich für Wackwitz als „Symptomrudiment“ einer „einigermaßen gut integrierten Psychose“, die die „sozialen Verklumpungsverhältnisse“ ebenso erkläre wie das assoziative Weltverhältnis seines intellektuellen Milieus. Und dann schwingt sich der Gelegenheitsparanoiker aufs Rad, um ins Büro zu fahren.
Auch Günter Grass kennt vergleichbare Symptomrudimente – etwa wenn ihm in großer Hitze plötzlich das Bild der vereisten Ostsee vor Augen tritt. Doch deren literarische Beschreibung ist für ihn „eine Art literarische Perversion, die man sich leistet“ – natürlich nicht, ohne später reuevoll nachzusehen, wie's dort am Meeresstrand denn wirklich aussieht. Grass braucht Fakten als Widerstand für seine Phantasie. Hätte er jedoch für seinen Roman „Ein weites Feld“ im Fontane-Archiv und in der Treuhand recherchiert, wäre ihm die besondere Aufmerksamkeit der PR-Abteilungen sicher gewesen. Daher bediente er sich eines „verdeckten Ermittlers“.
Einem anderen poetologischen Programm folgt Peter Kurzeck. Das Januar/Februar-Heft der neuen deutschen literatur enthält beeindruckend beängstigende Auszüge aus seinem im Frühjahr erscheinenden autobiographischen Roman: die Beschwörung einer alltäglichen Normalität durch einen armen Schriftsteller, der mit Worten über einen von Lager und Viehwaggons aufgerissenen Lebensabgrund balanciert.
Nach Gedichten von Rainer Kirsch und Franz Josef Czernin, Prosa von Ingo Schramm und Zsuzsanna Gahse beschließt eine Philippika von Gerhard Köpf gegen ignorante Kulturpolitiker und biedere Leseverhinderer das Heft der neuen deutschen literatur. Bei aller Symphatie – die Tirade klingt hohl wie das Plädoyer eines Lobbyisten. Köpf bemühte den altehrwürdigen Gegensatz von Anarchie und Ordnung, sieht hie Lesende und Schreibende traulich vereint, dort aber die sesselpupende Phalanx der Beamten, Deutschlehrer, Germanistikprofessoren und Literaturkritiker. Wie befriedigend muß das gewesen sein.
Den Blick über die Grenzen verspricht das Januar-Heft der Neuen Gesellschaft/Frankfurter Hefte mit dem Thema Europa und seine Nationalstaaten. Europa hat man allerdings vergessen, aneinandergereiht werden Aufsätze vor allem zu osteuropäischen Staaten, und eine Auseinandersetzung mit Gerhard Schröders populistischer Europa-Kritik oder Sir Ralf Dahrendorfs Verteidigung des Nationalstaats findet nicht statt.
Jörg Plath
„Der Alltag“. Heft 74. Elefanten Press Verlag, Am Treptower Park 28-30, 12 435 Berlin
„Sprache im technischen Zeitalter“. Heft 139. Aufbau Verlag, Neue Promenade 6, 10 105 Berlin
„neue deutsche literatur“. Heft 1/1997. Aufbau Verlag, Neue Promenade 6, 10 105 Berlin
„Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte“. Heft 1/1997. Godesberger Allee 139, 53 175 Bonn
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