Schönster Romananfang gekürt: Ilsebill schlägt Gregor Samsa
Was ist ein wirklich schöner erster Satz? Eine Jury aus Autoren und einem Handballtrainer hat gewählt - aus einer Auswahl von Lesern. Und der Gewinner lautet...
"Ilsebill salzte nach." Das ist, laut einer Jury, der neben anderen Heiner Brand, Jutta Limbach, Elke Heidenreich, Paul Maar und Thomas Brussig angehörten, der "schönste erste Satz der deutschsprachigen Literatur", wie die Initiative Deutsche Sprache und die Stiftung Lesen am Dienstag freudig bekannt gaben. Der Satz stammt von Günter Grass, er eröffnet den Roman "Der Butt".
Die Sätze selbst konnten sich nicht bewerben, auch die Autorinnen und Autoren nicht, nein, das einfache Wahlvolk sollte für die Sätze plädieren. Der zweite Platz geht an Kafka für seinen - im Gegensatz zum Siegersatz - wirklich weltbekannten Texteinstieg: "Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt."
Dieser Satz ist weltbekannt, aber ist er deshalb auch schön? Ist der Satz "Ilsebill salzte nach" schön? Worum genau ging es? Es wäre falsch zu unterstellen, dem Nobelpreis- und Alles-andere-Träger aus Lübeck wäre jetzt noch ein verspätetes Geburtstagsgeschenk gemacht worden. Auch ist es falsch zu argwöhnen, einzig die derzeitige Berühmtheit der Autoren der gekürten Sätze wäre ausschlaggebend, obschon in anderen Kategorien erste Sätze von Cornelia Funke und Ildikó von Kürthy und schließlich sogar von Paul Maar gewonnen haben.
Nein, die Initiative Deutsche Sprache und die Stiftung Lesen müssen sich vielmehr fragen lassen, um welche Kriterien es ihnen ging. Welche ersten Sätze wovon waren preiswürdig? Romane? Kafkas Verwandlung ist eine Erzählung. Gedichte? Essays? Ging es um die Berühmtheit? Wäre es dann nicht "Finster wars, der Mond schien helle / Auf die grünbeschneite Flur, / Als ein Wagen blitzesschnelle / Langsam um die Ecke fuhr" gewesen, ein Satz, dessen Autor unbekannt und damit der ganze Volksmund ist. Doch die Bekanntheit des Satzes hat keine Rolle gespielt, sonst wäre der meistzitierte erste Satz "Ein Gespenst geht um in Europa - das Gespenst des Kommunismus" der Gewinner gewesen. Ging es um Raffinement und die Güte der Sprache? Warum konnte dann Cornelia Funkes "Es fiel Regen in jener Nacht, ein feiner, wispernder Regen" den zweiten Platz unter den "Einsendungen von Kindern und Jugendlichen" belegen, wo doch "wispernder Regen" ein verunglücktes Bild ist? Und Schönheit, wie gesagt, ist ein fragliches Kriterium. "Ilsebill salzte nach." Ein Satz wie "Götz stand auf" oder "Helena fiel dann hin", der Hunger macht auf mehr. Denn er verrät nichts, schafft also Spannung. Ein alltäglicher Satz, banal. Genial banal gar?
Es ging hier offensichtlich wieder einmal um überhaupt nichts, außer um Bürgerbeteiligung und ein Spektakel, bei dem vieles, vor allem die deutschsprachige Literatur keine Rolle spielte. JÖRG SUNDERMEIER
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