Schöner Radeln: "Das muss schön porno aussehen"
Für den echten Fan sind Cruiser nicht einfach Fahrräder: Sie sind ein Lebensgefühl. Eine Tret-Harley kann man darum nicht einfach fahren, sie muss erst hemmungslos aufgemotzt werden.
Das Fahrrad ist nicht zu übersehen, als es in der Grünberger Straße auf dem Bürgersteig parkt: mit seinem grasgrün lackierten Rahmen und den fetten Ballonreifen, mit der verchromten Federgabel, über der ein ausladender Harley-Lenker thront, in 1,60 Meter Höhe. Bescheidenheit findet woanders statt. "Nichts gegen Normalfahrräder", sagt Frank (28), dem dieses Gefährt gehört, "aber Cruiser sind das Geilste von der Welt." Mit so einem Cruiser-Rad brettert man nicht hektisch umher, sondern fährt grundentspannt durch die Gegend, den Hintern auf einem Sattel gebettet, der in minimalistischen Designläden als Sessel durchgehen könnte. So zumindest die Idee.
Beachcruiser: Der Klassiker. Mit ausladendem, nach hinten gezogenem Lenker, extrabreitem Sattel, geschwungenem Rahmen, aufwändigen Lackierungen. Heißt seit 1976 Beachcruiser - damals hat die US-Firma Recycled Cycles den Namen als Marke für ihre Räder etabliert.
Lowrider: Der tiefergelegte Cruiser. Seine Existenz geht auf die jungen mexikanischen Einwanderer in Kalifornien zurück. Während ihre älteren Brüder in den 1960ern Autos tiefer legten, knüpften sich die Jüngeren die Fahrräder vor.
Stretchcruiser: Aber meiner ist länger! Ein Stretchcruiser kann bis zu 2,5 Meter lang werden.
Chopper: Das Motorrad unter den Cruisern. Oft mit dickem Hinterrad und Federgabel ausgestattet, manchmal sogar mit Auspuffattrappe. Der Lenker sitzt in der Höhe, der Fahrer dagegen in der Tiefe.
Cruiser bekommt man in Berlin unter anderem bei "Cruise & Style", Grünberger Str. 42, Friedrichshain. Mo. bis Fr. 10-20 Uhr; www.cruise-and-style.de. "Aloha Berlin", Eberswalder Str. 4, Prenzlauer Berg. Di. bis So. 13-20 Uhr; www.aloha-berlin.com. Szene-Forum: www.tret harley.de
Und sie scheint den Berlinern zunehmend gut zu gefallen: "Wir verkaufen von Jahr zu Jahr mehr Cruiser", erzählt Matthias Raddatz, der sich mit seinem Laden "Cruise & Style" in Friedrichshain auf diese Räder spezialisiert hat. "280 Euro kostet bei uns das günstigste Modell", sagt der 32-Jährige. Bei "Aloha Berlin" im Prenzlauer Berg, wo Berufsjugendliche auch Skateboards, selbst entworfene T-Shirts, Frisbees und Surfboards erstehen können, bestätigt man steigende Verkaufszahlen.
Seit auf MTV "Pimp my Fahrrad" lief, diese Sendung, in der Profis schrottreife Räder zu neuer Schönheit aufpolieren, befindet sich die Cruiser-Gemeinde hierzulande im Aufschwung. Sie ist, was Alter und Geschlecht ihrer Angehörigen betrifft, ziemlich durchmischt. Cruiserhändler Raddatz erzählt, dass Herren im Ruhestand genauso zu seiner Kundschaft gehören wie Mädchen aus der Oberstufe. Doch wenn man sich die Internetfanforen anschaut, stellt man fest: Diejenigen, die so passioniert ihre Räder aufmöbeln, sind meistens dann doch junge Männer. "Wir stehen untereinander viel in Kontakt und tauschen uns über unsere Projekte aus", sagt Frank.
Tatsächlich ist mit dem Kauf eines Cruisers gerade mal das Gröbste erledigt. Die Tret-Harley, wie der Cruiser von seinen Fans genannt wird, will Aufmerksamkeit, will umgebaut, will personalisiert werden. Es geht also um das hemmungslose Aufmotzen. Auf Cruiser-Foren im Internet findet sich dazu das passende Tuning-Mantra: "Es muss schön porno aussehen!" Wie man sich das vorzustellen hat? Radhändler Raddatz, der für seine Kunden auch Umbauten vornimmt, erzählt zum Beispiel von Felgen mit 324 Speichen für 1.150 Euro. Oder von Leuten, die Pedale passend zu ihren Tattoos wollen oder Lackierungen in Holzoptik.
Und Frank mit seinem grasgrünen Riesengefährt feiert das Licht: "Ich werde LED-Streifen an den Rahmen anbringen. Unterbodenbeleuchtung! Und dann noch welche an die Federgabel, so dass es in den Felgen leuchtet." Pause. Grinsen. Gewissheit: "Wird schon ein Hingucker, sag ich mal."
Ohne sein Fahrrad fällt Frank nicht sonderlich auf: Die kurzen Haare trägt er gegelt, der Rest von ihm steckt in der bewährten T-Shirt-Turnschuhe-Shorts-Kombination. Seit 2004 schraubt er an seinem Cruiser. Er hat ihn sich, wie er sagt, von seinem "Afghanistan-Geld" gekauft. Geld, das Frank in Kabul verdiente, als er dort sechs Monate lang stationiert war. Als Soldat der Bundeswehr war er dort Richtschütze auf Patrouille. "Meine Frau fand das erst nicht gut - das mit dem Rad." Inzwischen cruise sie selber. Und verstehe, dass Frank demnächst auch noch diese Spezialfelgen aus den USA bestellen müsse.
Die USA sind das Mutterland des Cruisers. Von den 1930ern bis in die 1950er hinein war er dort das Standardrad - auf den Markt gebracht von Frank W. Schwinn, dem Sohn deutscher Einwanderer. Inspiriert von den Motorrädern, die seine Firma baute, hatte Schwinn die Idee mit den Ballonreifen und den verchromten Schutzblechen. Vor allem Kinder liebten sein Rad, weil sie damit schmerzfrei über Bürgersteige und Schlaglöcher bügeln konnten. Auch auf Sand fuhr es bestens, so dass bald kalifornische Surfer die Cruiser für sich entdeckten. Sie bauten ausladende Lenker dran, um darauf ihre Bretter zu transportieren. Bis heute schmücken die Räder Straßen und Strände der Westküstenorte und laden sich in der kalifornischen Sonne zu Symbolen eines UV-verstrahlten, zurückgelehnten Glücks auf.
Ein Lebensgefühl, das Frank auch in Berlin zu reproduzieren versucht: Er rollt auf seinem Cruiser bisweilen 20 Kilometer raus nach Spandau, weil es dort ein Diner gibt, in dem er stilecht essen kann. Und einen Cruiser-Stammtisch will er gründen. Frank ist vor kurzem aus Rostock nach Berlin gezogen. Seit diesem Monat hat er wieder eine Arbeit, "im Security-Bereich", wie er sagt. Jetzt könne er es sich auch leisten, öfter zu den Treffen zu fahren, die die Cruiser-Szene deutschlandweit und regelmäßig veranstaltet. Und da muss man als echter Nerd natürlich dabei sein: Denn ein Cruiser, das ist kein Rad - das ist eine Lebenseinstellung.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!