Schleswig-Holstein: Schwarz-Gelb muss schwitzen
Die Mehrheit von CDU und FDP im Kieler Landtag wackelt: Aus drei Sitzen plus könnte einer zu wenig im vergrößerten Parlament werden. Tauziehen um Wahlgesetz dürfte vor dem Verfassungsgericht enden
Das Tauziehen ist in vollem Gang. Das Ergebnis der Landtagswahl in Schleswig-Holstein ist zwischen Juristen und den Parteien umstritten. Entweder haben CDU und FDP zusammen drei Stimmen Mehrheit oder sie haben ein Mandat zu wenig. Entweder gibt es statt der regulären 69 Abgeordneten in der Realität 95 oder sogar 101. Vermutlich wird letztlich das Landesverfassungsgericht klären müssen, wie die umstrittene Passage im Landeswahlrecht zu interpretieren ist (siehe Kasten).
Für die Grünen kündigte Parteichef Robert Habeck an, der Auslegung von Landeswahlleiterin Manuela Söller-Winkler nicht zuzustimmen. Diese hat eine schwarz-gelbe Mehrheit errechnet. "Nach wie vor legen wir das Wahlrecht anders aus", sagte Habeck, der am Abend mit elf von zwölf Stimmen zum Fraktionsvorsitzenden gewählt wurde.
Die frisch ins Parlament eingezogene Linke fordert "einen fairen Ausgleich der Überhangmandate", so ihr Innenpolitiker Heinz-Werner Jezewski. Notfalls werde sie die Sitzverteilung anfechten. Für die Dänenpartei SSW erklärte Fraktionschefin Anke Spoorendonk, "noch offen" zu sein. Man wolle abwarten, ob CDU und SPD sich für Änderungen des Wahlgesetzes aussprechen. Nach Ansicht des SSW müsse die Frage "politisch" und nicht im Wahlausschuss oder vor Gericht gelöst werden.
Das Wahlrecht in Schleswig-Holstein ist in seiner Bestimmung über die Sitzverteilung unklar.
Nicht alle Überhangmandate dürfen ausgeglichen werden: Diese Rechtsauffassung der Landeswahlleiterin führt zu einem Landtag mit 95 Sitzen: 69 reguläre plus elf Überhangmandate der CDU plus 15 Ausgleichsmandate der anderen Fraktionen.
Schwarz-Gelb hat nach dieser Version bei 46,4 Prozent der Stimmen 49 Mandate, die Opposition bei 48,1 Prozent mit 46 Mandaten drei Sitze weniger.
Alle Überhangmandate müssen ausgeglichen werden: Dann kämen sechs weitere Ausgleichsmandate hinzu. Bei dann 101 Abgeordneten hätten SPD, Grüne, Linke und SSW zusammen 51 Mandate, Schwarz-Gelb hätte mit 50 Sitzen keine Mehrheit mehr.
Spoorendonk wies darauf hin, dass auch ein voller Ausgleich für die CDU-Überhangmandate keine tragfähige Mehrheit links von Schwarz-Gelb unter SPD-Führung ermögliche. Deshalb sollten die juristischen Zweifel im Hinblick auf künftige Wahlen geklärt werden: "Das hat für uns höchste Priorität."
Unstrittig ist die Zahl der Überhangmandate. Die CDU hat mit den Erststimmen 34 der 40 Wahlkreise direkt gewonnen, nach dem Zweitstimmenergebnis aber nur Anrecht auf 23 von 69 Sitzen im Landtag. Die elf Überhangmandate darf sie behalten. Strittig ist hingegen, ob die anderen Fraktionen zum Ausgleich 15 oder 21 weitere Mandate erhalten.
Union und FDP sehen verständlicherweise kein Problem, sondern "eine eindeutige Rechtslage" und bereiten sich bereits auf die Koalitionsverhandlungen in der nächsten Woche vor. Mitte des Monats tagt erst der Landeswahlausschuss, der die Sitzverteilung formell beschließt. Dort können SPD, Grüne, Linke und SSW mit zusammen vier Mitgliedern CDU, FDP und die Landeswahlleiterin überstimmen. Dann würde sich ein 101-köpfiger Landtag ohne schwarz-gelbe Mehrheit konstituieren. CDU und FDP müssten dagegen vor Gericht ziehen oder versuchen, Grüne oder SSW zum Mitregieren zu überreden.
Allerdings hat die SPD ihr Verhalten noch nicht festgelegt. "Die Parteigremien müssen noch entscheiden", sagte der stellvertretende Parteivorsitzende Andreas Breitner. Er halte es jedoch "für schwierig, wenn wir uns nach einer verlorenen Wahl hinstellen und das Recht anzweifeln".
Zudem hat die SPD noch im Frühjahr zusammen mit der CDU klärende Änderungen am Gesetz abgelehnt, die Grüne und FDP vorgeschlagen hatten. Nach Ansicht Breitners beruft sich die Landeswahlleiterin somit auf geltendes Recht, "und es kann nicht die Aufgabe sein, das zu biegen". Eine einvernehmliche Klärung für die nächste Wahl, wie Grüne und SSW sie vorschlagen, sei hingegen "eine gute Initiative".
Zwei Tage nach dem Absturz der SPD wurde Spitzenkandidat Ralf Stegner als Fraktionschef wiedergewählt. 20 von 25 Abgeordneten stimmten für den 49-Jährigen, vier gegen ihn bei einer Enthaltung. Das ist ein etwas besseres Ergebnis als bei seiner ersten Wahl 2008.
Die CDU wählte am Nachmittag Christian von Boetticher mit 28 von 34 Stimmen zum Vorsitzenden. Damit wird der 38-jährige Rechtsanwalt aus Pinneberg als Nachfolger von Ministerpräsident Peter Harry Carstensen in Stellung gebracht. Gerüchten zufolge wird der 62-Jährige Anfang 2012, zur Halbzeit der nun beginnenden Legislaturperiode, sein Amt zur Verfügung stellen.
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