■ Schlagloch: "Da, schäm dich, was du wieder kostest!" Von Friedrich Küppersbusch
Was darf's denn sein?“ strahlt die Verkäuferin mich an. Ich kann gerade noch den Antwortreflex zurückhalten, damit der Mann im Rollstuhl, den ich gerade in ihren Laden geschoben habe, etwas beleidigt selbst antworten kann: „Ich hätte gerne...“ Mit einem gerade merklichen „Toll, daß der Kleine schon sprechen kann“ im Gesicht stellt sie seine Bestellung zusammen. Und grinst mich an: „Macht acht Mark neunzig.“
Alles, was mein Klient nicht gebrauchen konnte, war ein Kopf. Nicht, daß er einen zuviel gehabt hätte – eher schon hatte er einen Körper zuwenig. Seiner hing seit einem Autounfall zwar noch unter ihm, aber von den Schultermuskeln und Brustwarzen an abwärts unspür- und unsteuerbar, in manchen wichtigen Funktionen unbenutzbar. Mechanisch betrachtet also brauchte er einen Leihkörper: um den gelähmten zu doubeln von Buchumblättern über Schreiben bis Autofahren. Und für die Jetzt- nicht-mehr-Selbst-Erhaltung seines Körpers, von Essen über Waschen bis Urin und Stuhl.
Was er bekam, war ein handverlesenes Rudel von – Köpfen. Meist frisch aus- und übertrainiert mit 13 Jahren Schulzeit und brandneuem Abi in der Tasche. Mal Helfersyndrom, mal pazifistisch, mal kein Bock auf Bundeswehr, jedenfalls eines keinesfalls: qualifizierte Krankenpfleger oder Behindertenhelfer. Das können Zivildienstleistende gar nicht sein. Und meine Lehre aus dem Job war, daß man es durch die Praxis auch nicht zwangsläufig wird.
Selbst wenn man sich den „mechanischen“ Teil schnell draufschaffen kann. Stellen Sie sich vor, ein Bundesamt für Verdauung dürfte Ihnen alle 13 Monate einen neuen, wildfremden Mann ins Haus schicken. Der empfängt Sie morgens aus den Träumen, klebt Ihnen irgendwelche Gerätschaften ans Glied, schiebt Sie ins Badezimmer und feuert Sie, von behenden Kontrollgriffen unterbrochen, beim Kacken an. Der Reiz des Szenarios steigert sich, stellt man sich statt des – die Behinderte vor. Wer das prima findet, soll den Betroffenen die gegenwärtige Regelung zumuten. Alle anderen verstehen, warum sowohl Behindertenverbände als auch die Zentralstelle für Kriegsdienstverweigerer die Diskussion um die Abschaffung der Wehrpflicht beim Helm packen und den Zivildienst gleich mit schleifen wollen.
Etwas anderes als gefährlich naiv ist diese Haltung heute allerdings nicht: Wenn irgend was, und sei es auch noch so unzureichend, gestrichen wird – dann ersatzlos. Die dritte Stufe der „Gesundheitsreform“ folgt ohnehin dem Motto „je kränker, desto ätsch“. Die Streichung und Minderung von Regelleistungen betrifft gezielt die, die regelmäßig darauf angewiesen sind. Das Beispiel vom Rollifahrer, der als Arbeitgeber seiner Pfleger auftritt und damit endlich Herr über die Finger an seinem Hintern wird, ist mit der Pflegeversicherung kurz, gründlich und unbemerkt abgeschafft worden. Gerade in diesem wenig beachteten Detail zeigt sich, daß der Gesetzgeber wie viele andere Bäckereifachverkäuferinnen offenbar dazu neigt, von jeder erkennbaren Behinderung spornstreichs auf tiefste geistige Demenz zu folgern.
Soeben hat sich Bundesgesundheitsminister Seehofer ganz der FDP ergeben und will anfangen, das Krankheitsrisiko den Arbeitgebern von den Schultern zu nehmen. Angefeuert von Möllemann, der schon lang den Patienten „monatliche Kostenaufstellungen“ schicken will. Motto wahrscheinlich: „Da, schäm dich, was du wieder kostest!“
Bei all dieser Realitätsferne oder Lobbynähe kann es nicht verwundern, wenn in bezug auf Behinderte öffentlich Fragen diskutiert werden, die eigentlich keine sein müßten. Zum Beispiel jene: „Kann ein Krüppel Kanzler werden?“ Die Frage, so Wolfgang Schäuble, müsse gestellt werden. Da hat er recht, schließlich wirkt er federführend an der Politik mit, die Behinderte im speziellen, Kranke allgemein als unmündige Kostenprobleme behandelt. Es wäre billig und dumm, dem Unionsfraktionschef nun seine Behinderung politisch korrekt zum Vorwurf zu machen. Daß er seinen sozialpolitisch unverfroren tiefgefrorenen Stil unberührt durchzieht, nötigt da beinahe schon Respekt ab.
Andererseits und ebensowenig kann man Schäuble vorwerfen, daß er die Flucht nach vorn antritt und seine Bewerbung um die Kohl-Nachfolge mit der Krüppel- Überschrift versieht: Unausgesprochen stünde die Frage, siehe oben, eh im Raum. Daß Kohl den Kronprinzen inthronisiert hat, beendete nach außen zunächst einmal die Nachfolgedebatte. Und Volker Rühe ist der erste, der lernt: 14 Jahre hatten wir einen Kanzler, dem alle Angriffe nicht schaden. Jetzt sollen wir einen bekommen, den man nicht angreifen kann. Das Thema von Schäubles Bewerbung ist nicht ein politisches Programm, nicht einmal ein „Weiter so“, sondern schlicht: das Tabu. Es wird also erst später zu erkennen sein, was von Äußerungen zu halten ist wie etwa der des jungen, milden Christian Wulff aus Niedersachsen. Er halte Schäuble für einen geeigneten Kanzlerkandidaten, so Wulff, und dann weiter im Kleingedruckten: Der müsse sich nun selber prüfen, ob er sich das Amt psychisch und physisch zutraue. Das aber hat Schäuble längst getan und gesagt, und so klingt es, als sei die Krüppelfrage in der eigenen Partei noch nicht abschließend beantwortet.
Meines Klienten Rückkehr in den Beruf sah weniger aussichtsreich aus. Zunächst einmal ändert sich die Mentalität nicht durch die Behinderung: Der eine nimmt's kämpferisch, der andere grüblerisch, ein dritter und vierter wieder anders und anders. Dann spielte es sicher eine Rolle, daß ein Ingenieurbüro eines Ruhrgebiets-Konzerns weniger gerüstet war auf den Kollegen im Rolli als der Deutsche Bundestag. Daß es auch keine öffentliche Beachtung findet, wenn dort einer von einer Dienstreise querschnittsgelähmt zurückkommt. Wesentlich dann auch Fragen, ob der alte, neue Arbeitsplatz hinter Treppen verborgen, ohne Behinderten-WC und so fort überhaupt noch realistisch scheint. Ob die Kollegen befangen sind oder die, die irgendwann zwischen Kindergarten und Diplom mal mit Behinderten zu tun hatten, unbefangener sind. Jedenfalls scheiterte das Comeback, und ich hatte nicht den Eindruck, daß dies seine Schuld war.
Nicht alles, aber einiges davon ist politisch steuerbar. Sowenig Frau Nolte Frauenpolitik ersetzt, so wenig ersetzt ein behinderter Kanzlerkandidat Behindertenpolitik. Also ist Schäuble Glück zu wünschen, daß seine Partei ihn nicht mißbraucht, nur um eine unerwünschte Debatte zur Unzeit abzuwürgen. Ein Krüppel kann und darf als Kanzlerkandidat antreten, und er hat das unbedingte Recht darauf, wegen seiner politischen Inhalte, und nur deswegen, dann lieber doch nicht gewählt zu werden.
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