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■ SchlaglochKotze und Konjunktiv Von Mathias Greffrath

„Vor langer Zeit gab es Geschichten, die so groß waren, daß man sein ganzes Leben in ihnen verbringen konnte. Aber sie sind alle gestorben, oder die Welt hat sie vergessen, also erfinden wir jetzt alle unsere eigenen Geschichten.“

Robbie in „Shoppen

und Ficken“ von

Mark Ravenhill

Wahlkampftheater – Zeit, um über die überzeitlichen Dinge nachzudenken. Über „Shoppen und Ficken“ zum Beispiel, ein Theaterstück, das in der Baracke des Deutschen Theaters gespielt wird. Ein Stück über Liebe in der niedrigsten Gangart; es spielt unter Junkies, Schwulen, Strichern, und Sperma, Kotze, Blut und Fertigsuppen fließen reichlich. Die Frau, die neben mir saß, kriegte gerade noch die Hand vor ihren Mund.

In diesem Stück gibt es eine ganz große Szene. In ihr taucht Brian, ein Ecstasy-Großhändler und ideeller Gesamtkapitalist, in der Wohnung von Lulu und Robbie auf, die seine Glückspillen verschenkt statt verkauft haben. Brian zeigt den beiden ein Video, auf dem sein Sohn eine der Solo-Sonaten für Violincello von Bach spielt. Die Kids glotzen auf die Darbietung, die ihnen so fremd ist wie ein Fruchtbarkeitstanz aus Papua- Neuguinea, Brian weint: „Es fühlt sich an wie etwas, daß du mal gekannt hast. Etwas so Schönes, daß du es verloren hast, aber du hast den Verlust ganz vergessen. Und dann hörst du das. Und weißt, was du verloren hast...“

Dann erklärt er den beiden Kleindealern, was die Läuterung möglich macht: „Geld. Erst das Schulgeld und die Uniformen, die Klamotten, die Musik, Skifahren ... deshalb muß ich darauf achten, daß der Geldfluß weiterfließt, versteht ihr? Und deshalb geht es nicht, daß LEUTE MICH BESCHEISSEN. Versteht ihr das?“ Er gibt ihnen sieben Tage, die 3.000 Pfund herbeizuschaffen, zeigt zum Abschied ein zweites Video: ein Mann mit einem Isolierband über dem Mund, ein Black- &-Decker-Bohrer nähert sich dem Gesicht. „Auch einer, der seine Prüfung nicht bestanden hat.“

Ich mußte an diese Szene denken, als ich kürzlich in der Akademie der Künste saß, wo Karl-Markus Michel den Heinrich-Mann- Preis erhielt. Michel, den Kursbuch-Macher, Mitgestalter der Regenbogen-Reihe, den gallig-humorvollen Essayisten, Michel, den unauffälligen Aufklärer zu ehren – das war eine gute Entscheidung (ich müßte an dieser Stelle wohl sagen, daß ich in der Jury saß und der Beschluß einstimmig war).

Karl-Markus Michel hielt im Halbdunkel des Akademie-Studios eine melancholische Rede: Niemand zitiere noch Pentameter korrekt, die Welt sei voller falscher Konjunktive, Metaphernschänder brächten „Gordische Knoten zum platzen“; die falschen Gefühle der Musicals, die Regression ins Urinieren, Defäzieren und Vomieren auf offener Bühne, die Love Parade – ach, all dies sei nicht mehr aufzuhalten, schlimmer: wahrscheinlich sei es die triebhafte Normalität, über der immer nur eine hauchdünne Schicht von in Freiheit geformter Hochkultur gelegen habe. Die sei nun niederdemokratisiert zu einer kulturellen Äußerungsform, neben Tangoturnen, Kartenspielen, Kunstfälschen oder Sport. Wenn jemand nur geschickt anprangere, so blickte der Redner in die Zukunft, was all die Opern, die Sammlungen kosteten, die doch längst nicht mehr von der Gesellschaft als Maß und utopische Herausforderung geehrt würden, sondern nur noch das Leben ein paar edler Menschenexemplare verschönere – dann seien die Tage der staatlich geförderten Kunst wohl endgültig gezählt; die der Menschen, die nuancenreich genug für sie seien, sei es ohnehin. „Sie sterben aus.“

Wir sterben aus? Da nickten die Akademie-Mitglieder, und die Berichterstatter freuten sich, daß auch die FAZ des Griechischen nicht mehr mächtig ist. In diesem Augenblick, so kam es mir vor, war dies keine Preisverleihung mehr, sondern die Selbstexhumierung des lange toten Bürgertums. Michel, der Aufklärer, horchte ironisch trauernd vergangener Freiheit hinterher, aber aus diesem dunklen Auditorium schien es keinen Weg zu geben zu den Jungen, die in der Baracke sitzen, genauso gespannt und atemlos und zugewandt, wie ihre Vorgänger in den Teach-ins mit Marcuse saßen.

Diese Jungen haben den Absturz aus der hausmusikunterstützten Wertewelt nicht mehr erlebt. Über ihren Wickeltischen hingen die Bilder der schrumpfenden Wälder, der Stoff ihrer Kinderbücher waren Atomraketen. Für sie hat es diese nicht enden wollende Melancholie des Abschieds nie gegeben. Sie haben die Illusion ihrer Nachkriegseltern nie geteilt, die Welt könne noch einmal in Ordnung gebracht werden, wenn man Parlamente besetzt und vergriffene Bücher noch einmal auf den Markt bringt.

Sie sind die erste wirklich nachbürgerliche Generation. Sie sind nicht einmal halbgebildet, weil kein Kanon mehr sagt, was Bildung ist. Sie trennen nicht E und U, Abendland und Buddhismus, Aufklärung und Mystik. Sie nehmen kein Buch ernst, das nicht vor dem Urteil ihres Gefühls besteht. Sie fangen ganz von vorn an. Aber man muß keine Hexameter richtig häckseln können, nicht einmal Marcuse und Foucault gelesen haben, um die Szene mit dem Cello und der Bohrmaschine zu begreifen. Schrill wie ein Comic bringt sie die Dialektik der Aufklärung auf den Punkt.

Die Verwalter des Alten schaudert es ob dieser Unmittelbarkeit, die grobianisch verzehrt, was sie vorfindet. „Wir sterben aus“, sagt Michel, und die Akademie-Insassen klatschen. Aber vielleicht gibt es ja doch noch einen Trieb, der stärker ist als Melancholie: Lust an neuen Formen des Lebens, auch am eigenen im barbarischen Neuen. Und vielleicht hätten ja, solange sie noch nicht ganz tot sind, die Planstellenbesitzer der Theater, der Universitäten, der Akademien noch eine letzte Aufgabe vor sich. Sich vom Abschied zu verabschieden. Nicht zu warten, bis ihre unprofitablen Häuser vom Staat abgewickelt werden und die kreativen Reste Beute der Medienwirtschaft; sondern die Türen weit zu öffnen und ihre Mittel, ihre Kenntnisse, ihre Restkraft – ja, wenn's gut geht, sogar den einen oder anderen unverzichtbaren Konjunktiv und Sonatensatz – den vitalsten unter den Barbaren, mit denen sie immer noch tausendmal mehr verbindet als mit ihren Sponsoren, zu übergeben. Denn das Neue ist immer barbarisch, manchmal heißt es sogar Schlingensief und kommt als zappeliges Kind daher, das die Mitglieder des Deutschen Schauspielhauses dazu bringt, 120 Tage lang Suppe, Lieder und Gedichte an Obdachlose auszuschenken. Am Ende dieses Winters standen, zahnlos und feiertäglich gekleidet, drei Dutzend Penner auf der Bühne des hohen Hauses in Hamburg und sangen zum Akkordeon „Wir sind auch ehrliche Leut“. Das war kein bißchen peinlich, sondern pathetisch und zum Weinen, also klassisch kathartisch. Es gab denen, die ganz draußen sind, ein wenig Würde, für einen Augenblick, und der Intendant des Schauspielhauses sagte: „Wir haben jetzt weniger Angst vor der Wirklichkeit als vorher.“ Das ist ein Indikativ.

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