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Schlagloch „Phänomen Thomas Piketty“Revolutionär auf Katzenpfoten

Kommentar von Mathias Greffrath

In unparteilicher Pose rechnet Piketty in seinem Buch nach, das Ungleichheit am Kapitalismus liegt. Seine Antwort ist ein Umsturz ganz ohne Utopie.

Nichtrevolutionärer Revolutionär: Thomas Piketty. Bild: dpa

V erehrtes Publikum, los, such dir selbst den Schluß! / Es muß ein guter da sein, muß, muß, muß!“ (Bertolt Brecht)

Am letzten Wochenende musste ich an Karl Kautsky denken. Das war der Sozialdemokrat, der vor hundert Jahren den Begriff des „Ultraimperialismus“ geprägt hat: eine Ordnung, in der monopolistische Riesenunternehmen durch universellen Freihandel, zunehmende Kapitalverflechtungen und -konzentration die Welt „friedlich“ unter sich aufteilen. Die Beschreibung trifft ziemlich gut die Tendenzen, deretwegen Thomas Pikettys dickes Buch über das „Kapital im 21. Jahrhundert“ ein Beststeller geworden ist.

Mit einer erschöpfenden Fülle statistischen Materials weist er nach, dass steigende Ungleichheit kein Ausrutscher, sondern das normale Resultat der kapitalistischen Marktwirtschaft ist. Pikettys Untersuchung der Vermögenskonzentration, der globalen Klasse von Superreichen und des Bereicherungsmechanismus ist kaum zu widerlegen. Er warnt vor den ökonomischen Krisen und sozialen Unruhen, die daraus folgen werden; sein Hauptvorschlag: eine globale progressive Steuer auf große Vermögen, um diese unerwünschten Folgen zu dämpfen und das Geld in Bildung und andere, notwendige gesellschaftlichen Aufgaben zu stecken. Auf Nachfragen erklärt er, kein Antikapitalist zu sein und schon gar nicht gegen Eigentum. Wieder nur ein Arzt am Krankenbett des Kapitalismus?

Mathias Greffrath

lebt als freier Autor für Print und Radio in Berlin. Zuletzt schrieb er an dieser Stelle über die Möglichkeiten von Rot-Rot-Grün, die politische Stagnation zu überwinden: „Anlauf zum langen Angriff“.

Pikettys Pose der Unparteilichkeit hat seinen Erfolg ausgemacht. Er operiert im Rahmen der orthodoxen Wirtschaftstheorie, deshalb ist seine Wirkung vor allem in der akademischen Welt der USA so groß: Nobelpreisträger Krugmann nannte „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ das „wichtigste Buch des Jahrzehnts“, für Weltbankökonomen ist es ein „Wendepunkt in der ökonomischen Literatur“.

Bild einer befreiten Gesellschaft

Dass ein dickes, auch kompliziertes Buch, das nachrechnet, was seit Jahren unter Zeitungslesern Common Sense ist, so Furore machen konnte (Gesamtauflage 800.000), ist das eigentliche „Phänomen Piketty“. Am letzten Freitagabend moderierte ich eine Veranstaltung, auf der Piketty, eingeladen von den Blättern für Deutsche und Internationale Politik und dem Haus der Kulturen der Welt (HKW), seine Thesen vorstellte.

Es kamen gut und gern zweitausend Menschen, Hunderte mussten draußen bleiben, der Saal im HKW war überfüllt, das Publikum folgte gute zwei Stunden Pikettys Ausführungen und der folgenden Diskussion, in der Hans-Jürgen Urban (IG Metall), Susan Neiman (EinsteinForum) und Joseph Vogl („Das Gespenst des Kapitals“) komplexere methodische Fragen erörterten und, natürlich, die „Was tun“-Frage umkreisten.

Zweitausend, oder mehr, an einem Freitagabend: gut ausgebildete, multilinguale, zumeist junge Menschen, die zu aufgeklärt sind, um noch an die Hoffnungen der großen Mehrheit aller Parteien des Parlaments zu glauben, die das Ende des Wachstums nicht wahrhaben will. Sie sind zu nüchtern für Revolutionsparolen und wollen sich doch weder in den gängigen Phrasen der Alternativlosigkeit noch in der „Wir haben doch alle keine Antwort“-Skepsis einrichten. Und irgendwie haben sie das Gefühl, dass die Teilnahme an den periodischen Wellen von Protest – Attac, Occupy, Campact –, die sich immer wieder an der Brandung des Beharrens brechen, nicht reicht.

Deshalb fiel mir Kautsky ein. Nicht wegen seines „Ultra-Imperialismus“, sondern Kautsky, der wesentliche Verfasser des „Erfurter Programms“ von 1891 – zu Beginn der „Belle Epoque“, in der Thomas Piketty den vorletzten Höhepunkt der Ungleichheit lokalisiert. In diesem Programm kamen drei Dinge zusammen: die Gewissheit kommender schwerster, ja finaler Krisen („der große Kladderadatsch“); ein Fernziel: der „Zukunftsstaat“, das Bild einer befreiten Gesellschaft, das August Bebel in den 52 Auflagen seiner „Frau im Sozialismus“ popularisierte; und, drittens, ein Bekenntnis zur Praxis der pragmatischen kleinen und mittleren Schritte – aber immer ausgerichtet auf den Polarstern einer sozialistischen Zukunft. Aussicht auf die Katastrophe, Fernziel, Anleitung zur Tagespolitik – unter einem Dach, und immer zusammenzudenken.

Verstreute Erwägungen

So etwas, ist, hundert Jahre später, nicht im Angebot. Oder doch? Pikettys Bilanzierung des abflachenden Wachstum erinnert zwar von fern an den Marx’schen „tendenziellen Fall der Profitrate“, aber seine knochentrockenen fiskalpolitischen Erwägungen ergeben keinen utopischen Bildungsroman. Dafür etwas anderes. Über das Buch verstreut finden sich Erwägungen über: globale Steuern auf die weltweit größten Vermögen und Erbschaften, um die Akkumulation zu bremsen und die Ungleichheit abzubauen; eine Steuer auf die Ölprofite, um Investitionen in den Klimaschutz zu finanzieren; eine politische Kontrolle der großen Staatsfonds und eine progressive Einkommensteuer zur Finanzierung von Gemeinschaftsaufgaben, vor allem von Bildung. Weiter: eine Absicherung und deshalb einen Umbau der sozialstaatlichen Institutionen unter den Zwängen sinkender Wachstumsraten; eine einmalige Vermögensabgabe der Geldeigentumsbesitzer zur Tilgung der Staatsschulden; eine gesamteuropäische Steuerpolitik. Und zu allererst: einen globalen Vermögenskataster, der all das und die Schleifung der Finanzparadiese ermöglichen würde.

Zusammengenommen ist das keine Utopie, aber ein ziemlich umstürzlerischer Werkzeugkasten – der Algorithmus dafür dürfte technisch kein Problem sein. Wie hieß es doch damals: Im Schoße der alten Gesellschaft wachsen das Wissen und die Produktivkräfte der neuen. Ist Piketty also doch ein Revolutionär auf Katzenpfoten? Der wissenschaftliche Mitarbeiter eines kommenden Kautsky?

Fehlte nur noch so etwas wie eine Partei … Ach ja: Am Vormittag des Freitags beschied Sigmar Gabriel dem jungen Mann, die Vermögenssteuer, die noch im letzten Wahlprogramm der SPD stand, halte er für tot. Ach ja. Übrigens hatten die Veranstalter den Abend „Das Ende des Kapitalismus im 21. Jahrhundert“ betitelt. Hundert Jahre sind eine lange Zeit.

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9 Kommentare

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  • Das ist Demokratie in Deutschland.

    es wäre möglich, das Gesetze und Regelungen in den Parlamenten beschlossen werden könnten, die mehr asls 90 % der Bürgerinnen und Bürger wirklich positiv betreffen kann. Aber die mehrheit dieser "Betroffenen" wählt gegen ihre Interessen. Wie ist das zu verstehen ?

  • M. Greffrath ist offenbar auch ein Wunschdenker , ein Voluntarist , der nicht mitbekommen hat , dass Piketty ein solcher , dazu aber noch ein genialer Scharlatan ist . In der Wirklichkeit wird sich durch seinen Bestseller nichts ändern , ... außer der zusätzlichen Hirnvernebelung bei den Hunderttausenden seiner Leser .

    Was Greffrath hier schön auf den Punkt gebracht hat : Piketty könnte ein moderner idealistisch-marxistisch angehauchter Sozialdemokrat von anno dunnemals sein . Sein Publikum : die Millionen , die immer noch glauben , man müßte doch den Kapitalismus von innen heraus , unter Beibehaltung aller seiner wesentlichen Systemkategorien bändigen wenn nicht überwinden können .

    Der Kapitalismus ist n i c h t seit sechs Jahren in einer fundamentalen Krise , weil die Superreichen der Welt auf großen Säcken voller Bargeld sitzen , das nur mit Hubschraubern über den Ländern verteilt werden müßte , und die Krise wäre beendet . Ihre Fabriken , Villen , Ländereien , Yachten kann man ja irgendwie schlecht ebenfalls aus der Luft abwerfen und gleichmäßig auf alle verteilen .

    • 2G
      2097 (Profil gelöscht)
      @APOKALYPTIKER:

      Die Wahrscheinlichkeit, dass sich in der Gesellschaft eine Mehrheit für die Einführung einer verfassungskonformen Vermögenssteuer und einer Reformierung der Erbschaftssteuer unter Umverteilungsaspekten findet, ist bereits sehr gering. Noch geringer ist allerdings die Wahrscheinlichkeit, dass sich eine Mehrheit für die Abschaffung des Kapitalismus findet.

      • @2097 (Profil gelöscht):

        Ja , so ist es . Die Mehrheit ahnt nur mehr oder weniger dunkel , dass es keinen "Aufschwung" mehr für sie geben wird , will es aber gleichzeitig garnicht wissen . Im gesellschaftlich konstituierten Bewußtsein ist bei den Menschen im Laufe der ca letzten zwei Jahrhunderte "der Kapitalismus" wie eine zweite Natur eingewöhnt worden : sie 'können' nicht anders denken , sie können/wollen nicht erkennen , dass das System aus systemimmanenten (!) Gründen dabei ist , sozusagen im Schritttempo an die Wand zu fahren .

        No way out !

    • 1G
      10236 (Profil gelöscht)
      @APOKALYPTIKER:

      "...weil die Superreichen der Welt auf großen Säcken voller Bargeld sitzen..."

       

      Nein, aber seit über 30 (USA) oder über 20 (Europa) Jahren tut man steuerlich alles, damit es a)mehr Reiche b)reichere Reiche gibt. Das angebliche Versagen des Keynsianismus wurde von Leuten genutzt, die neben der Bibel auf dem Nachttisch "Atlas Shrugged" liegen haben. Somit ist diese Krise eine Zeugung des Elitedenkens und falscher Wirtschaftspolitik. Es ist wohl kaum eine Breite Masse der Bevölkerung gewesen, die händeringend nach Rendite gesucht hatte. Die breite Masse hätte es verfrühstückt. Und darum geht es in der Wirtschaft.

      • @10236 (Profil gelöscht):

        Knapp daneben ist auch vorbei .

        Der Keynesianismus , richtiger : der Pseudo-Keynesianismus , will heißen 'Geld aus der Luft schöpfen' , kann nur eine begrenzte Zeit 'gut'gehen - bis zum Crash .

        Nach dem BigBang 2008 mußten die Staaten viele Banken retten - mit 'Geld' , das sie gar nicht hatten , ... um einen drohenden Kollaps des ganzen Systems zu verhindern . Die "Merkel'sche" Sparpolitik hat zum letzten Grund die begründete Furcht , dass die Staaten zu einer weiteren "Rettung" nicht in der Lage wären .

        Geld in Form von "heißer Luft" funktioniert nicht .

        • 1G
          10236 (Profil gelöscht)
          @APOKALYPTIKER:

          Was ist Geld in Form von "heißer Luft"?

  • 1G
    10236 (Profil gelöscht)

    Diese Grafik

     

    http://blogs.independent.co.uk/wp-content/uploads/2013/10/dw.jpg

     

    ist anscheinend für den Großteil der Bevölkerung

     

    a) unbekannt, oder

    b) unverständlich, oder

    c) egal

     

    sonst hätten wir wirklich andere Wahlergebnisse.

  • 2G
    2097 (Profil gelöscht)

    Weder NPD/AfD/CSU/CDU/FDP/SPD/GRÜNE sind für eine Einführung der Vermögenssteuer und auch nicht für eine soziale Reform der Erbschaftssteuer.

    Somit gibt es keine Mehrheit für die Vorschläge von Herrn Piketty. Bisher eignete sich das Buch nur für Besprechungen in den Feuilletons. Ich wage zu bezweifeln, dass sich ernsthafte Veränderungen hinsichtlich Vermögenssteuer und Erbschaftssteuer ergeben werden. Ich würde mich natürlich freuen, wenn ich falsch liege.