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Schlagloch MeinungsfreiheitFusel der Freiheit

Kommentar von Charlotte Wiedemann

Über trunkene Medien und den Blutzoll des weißen Mannes: Nach Paris war „Je suis Charlie“ in aller Munde. Nach Kopenhagen ist das nicht so.

Blumen und Bleistifte allein reichen nicht, um die Meinungsfreiheit zu verteidigen. Bild: dpa

D ie Trunkenheit verebbt nun allmählich, jener seltsame Rauschzustand, der sich nach den Attentaten in Paris unter den westlichen Meinungs- und Medienmachern verbreitete. Es waren Tage ungenierter Selbstbedienung. „Je suis Charlie“ lallend, durfte sich jeder Hochprozentiges genehmigen, den Meinungsfreiheitsfusel, der kostenlos an allen Ecken ausgeschenkt wurde.

Betrunkene überschätzen bekanntlich ihre Kräfte, sie halten sich für stark, schön, scharfsinnig und begehrenswert – sie fühlen sich als Helden und genießen die Bewunderung in den Augen ihrer Mitzecher. So sonnten sich Chefredakteure, TV-Moderatoren, Kolumnisten kollektiv im Glanze ihrer Courage, standen auf Barrikaden, gezimmert aus purem Edelmut. Würde nicht ein jeder sein Letztes geben, um das freie Wort zu verteidigen, den freien Gedanken?!

Nach Kopenhagen ist es stiller geworden. Womöglich hat der eine oder andere Held bemerkt, wie theoretisch die eigene Courage war. Denn es braucht wenig Mund, in einen Schrei einzustimmen, den viele Münder um den Schreienden herum im selben Moment ausstoßen. Genau der gleiche Schrei kann indes eine ganz andere Qualität haben, wenn die Umgebung stumm ist oder missgünstig.

Als der junge Twitter-Redakteur der iranischen Reformzeitung Shargh wenige Stunden nach dem Pariser Attentat ein Selfie mit „Je suis Charlie“ versandte, dachte ich: Chapeau! Der junge Mann gefährdete sich selbst und seine Zeitung. Es war ein Akt der Furchtlosigkeit gegenüber der eigenen Staatsmacht. Danach wusste ich, dass ich mir das Charlie-Logo nicht zu eigen machen würde; es kam mir falsch und billig vor, in meiner Situation.

Wider dem intellektuellen Konformismus

Sich in einer Atmosphäre, die von Agnostizismus und latenter Islamophobie geprägt bist, gegen die Ermordung antiislamischer Karikaturisten zu stellen, ist beschämend einfach. Gleiches in der Islamischen Republik zu tun, hat eine völlig andere Qualität. Doch kaum jemand nahm Notiz von dem jungen Iraner. Der Titel seiner Zeitung bedeutet übrigens „Osten“. Meinungsfreiheit ist auch ein östlicher Wert, ebenso wie ein südlicher. Die wahren Helden leben dort, wo der Freiheitsfusel nicht kostenlos ist und wo es nicht einmal die Chance gibt, intellektuellen Konformismus als Wagemut zu kostümieren.

Die Attitüde, universelle Werte zu verteidigen, verhüllt in diesen Tagen nur notdürftig die Selbstgerechtigkeit, mit der wir auf den kulturellen Zustand im Rest der Welt blicken. Als würde der Westen, als würde der weiße Mann den höchsten Blutzoll für die Freiheit leisten. Dem ist mitnichten so. Man braucht dazu nur auf die jüngste Liste von Reporter ohne Grenzen zu blicken, mit den Toten des vergangenen Jahres. Man sieht dort übrigens auch viele muslimische Namen.

Und die Morde von Paris und Kopenhagen haben nichts an diesem Befund geändert: Die übergroße Mehrzahl der Opfer des Terrors sind Muslime. Monat für Monat bestätigen dies sämtliche Statistiken, wie auch am Tag der Paris-Attentate die Zahl der Toten in Nigeria hundertfach höher war. Ungezählte Leichen, jenseits aller Breaking News. Nichtweiße Leichen.

Entsetzen und Trauer

Die beständige Forderung an hiesige Muslime, sich vom Terror zu distanzieren, hat deshalb etwas zutiefst Unwürdiges – unwürdig für uns, die es von den Muslimen verlangen. Weil jeder, der auf die Opferzahlen nur einen flüchtigen Blick wirft, ahnen müsste, wie tief sich das Entsetzen, die Trauer und die Scham bereits in die muslimischen Gesellschaften aller betroffenen Länder hineingefressen haben.

Wenn das flammende Bekenntnis der Medien zur Meinungsfreiheit jedoch mehr gewesen sein soll als eine billige Pose, dann müsste es Folgen zeitigen. Was könnte denn Mut unter hiesigen Bedingungen bedeuten? Zum Beispiel: Konsequenzen verlangen, wo der Westen Menschenrechte mit Füßen tritt. NSA, CIA-Folter, Guantánamo – wieso wird niemand zur Rechenschaft gezogen? Sind die „Guantanamo Diaries“, die kürzlich erschienen sind, nur Gruselliteratur für den Bücherschrank?

Im Jemen haben die Kinder Albträume, von einer US-Drohne getötet zu werden. Ist das der Antiterrorkampf, den wir wollen? Schreibt da jemand „Nicht in meinem Namen!“, jene Parole, die – nach Paris – von manchen Muslimen hochgehalten wurde, unter dem beifälligen Gemurmel (na, endlich!) des Medienmainstreams.

Dresden und Aleppo

Es wäre mutig gewesen, am Jahrestag der Bombardierung von Dresden neben das bekannte Foto der Trümmerlandschaft ein ganz ähnliches Foto aus dem heutigen Aleppo (Syrien) zu stellen. Vor allem wäre es mutig, sich mit dem wachsenden Verdruss über die Medien ernsthaft zu beschäftigen, statt die Kritiker als Irre abzutun.

Wie kann es sein, dass das Vertrauen in die Glaubwürdigkeit von Medien bei den Nutzern auf unter 30 Prozent gesunken ist, während sich deren Macher für die Brandmauer der Demokratie halten? Es wäre mutig, sich in der Berichterstattung über die Ukraine und Russland den Ursachen jenes „Konformitätsdrucks in den Köpfen der Journalisten“ zu stellen, den sogar unser Außenminister erstaunlich findet.

Meinungsfreiheit ist immer die Freiheit einer Minderheitenmeinung. Aber wo sind die abweichenden Positionen? Wo wird ein Diskurs über die wesentlichen Fragen der Außenpolitik, der Finanzpolitik offen, verständlich, massenwirksam gepflegt? Die neue griechische Regierung als „Geisterfahrer“ und „Halbstarke“ zu denunzieren, war eher wenig mutig.

Ich las dieser Tage Houellebecq, „Unterwerfung“. Es ist ja gut, sich Haltungen auszusetzen, die man nicht teilt. Das Buch liest sich schnell, zumal wenn man die Schwanzbeschreibungen nur querliest. Die Sich-Unterwerfenden sind bei Houellebecq die Frauen: die Musliminnen ohnehin, sie sind geborene Objekte, nur für Bett und Küche da, und die anderen Frauen zieht es bald hinterdrein. Als Satire wäre das so mäßig wie die obsessive Analerotik von Charlie Hebdo. Wer das Bändchen allerdings, wie zu lesen war, für exzellente Literatur hält, hatte noch reichlich vom hochprozentigen Fusel der Freiheit auf dem Schreibtisch stehen.

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15 Kommentare

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  • Dieser Kommentar gehört zu den - relativ wenigen - in der TAZ, die nicht der "Recht-auf-Selbstverteidigung-Rhetorik" verfallen, sondern differenzieren - und außerdem Medienkritik jenseits der "Lügenpresse"-Rufe üben. Ich schätze die Autorin sehr. Es fällt auf, daß "Hau-drauf-Kommentare" meist von Männern, klug abwägende, reflektierende meist von Frauen kommen. Leider auch in der TAZ. (Ich sitze dabei "Genderklischees" auf, hat kürzlich ein Mitforist gerügt - sei's drum.)

  • 1G
    1393 (Profil gelöscht)

    Wie würde es aussehen, wenn es tatsächlich hier in Deutschland Meinungsfreiheit gäbe und es noch einen einen "Stürmer" gäbe. Hätten sich dann auch alle "Wir sind Stürmer" auf die Stirn geklebt, wenn extremistische Juden die Mitarbeiter und Redakteure des "Stürmers" ermordet hätten?

     

    Nun ja, Charlie Hebdo war sicher kein "Stürmer", doch wenn es um die Hetze gegen Moslems geht/ging, sicher nicht frei von Beteiligung. Wenn man sich mit Jillands Post bei nur zur Verunglimpfung von Moslems bezweckten Karikaturen solidarisiert, ist es nur folgerichtig, dass z.B. in diesem Fall Muslima (nach Frankreich gefüchtete Boko Haram Sexsklavinnen) stürmermäßig als Wohlkfahrtsflüchtlinge "karikiert".

     

    Noch deutlicher wird Charlie Hebdos & und die "wir sind charlie" Heuchelei mit der Meinungsfreiheit, wenn man die Entlassung von Maurice Sinet betrachtet und bemerkt, wo die Meinungsfreiheit für Hebdo aufgehört hat.

     

    Leider ist es hier so, dass die meisten, die hier über Meinungsfreiheit reden, nur die Freiheit meinen, Muslime mit allen Mitteln verunglimpfen zu dürfen.

  • Die Weltkarte der Pressefreiheit von "Reporter ohne Grenzen" hat in Puncto "Sehr ernste Lage" zwei ideologische Schwerpunkte: Islamismus in arabischen Ländern und Kommunismus in China

     

    https://www.reporter-ohne-grenzen.de/weltkarte/

    • @Arcy Shtoink:

      Wo gibt es in China Kommunismus?

  • Genau.

    Wider den unintellektuellen Konformismus:

    gegen den Annektions-Durchmarsch des Kremlregimes im Donbass

    gegen den BND-Verbündeten und Chemiewaffenmörder Assad und seine Auslandskonten

    gegen die ausrottungsorientierten Mörder, die sich mit dem Wort "Islam" oder "Jihad" labeln.

     

    Für das Recht auf Selbstverteidigung und für die Unterstützung der Angegriffenen - je weniger sie sich selbst verteidigen können, desto mehr !

    • @nzuli sana:

      Lesen Sie nochmal den Anhang zum OPCW-Bericht bevor Sie von "Chemiewaffenmördern" faseln.

      Bringt Klarheit.

  • 3G
    3784 (Profil gelöscht)

    Volltreffer :-)

  • Analytisch bestechend ehrlich.

  • Ziemlich widerwärtig, diese verständnisheischende "Ja, aber!"-Rethorik im Angesicht von blankem Terror. Und die Leute von Charlie Hebdo sind letztendlich offensichtlich selber schuld, wenn man sie massakriert, oder was soll der Hinweis auf ihre "obsessive Analerotik"?!

  • "Die neue griechische Regierung als „Geisterfahrer“ und „Halbstarke“ zu denunzieren, war eher wenig mutig. "

     

    Das war keine Denunziation, sondern eine korrekte Beschreibung des Sachverhalts.

    Eine Minderheitenmeinung muss nicht richtig sein, nur weil sie mutig (was immer das heißen mag) ist. Umgekehrt kann man sich dagegen die Frage stellen, ob die eigene Selbstwahrnehmung als unangepasst und mutig, ein damit korrespondierendes Sozialmilieu, nicht erst die Entwicklung solcher Minderheitenmeinungen begünstigt bzw. sogar notwenig macht. Rebell mit einer überlegenen Moral zu sein ist halt schon cool.

  • So toll angefangen und dann zerfasert und zum Schluss einen Absatz gehässiger Stilkritik über einen der bedeutendsten Autoren der Gegenwart, schade. Das mit der Medienkritik ist einen eigenen Kommentar wert; sie erklärt den Rausch am "Freiheitsfusel" nicht. Und den Houellebecq am besten noch mal lesen, oder besser vorlesen lassen. Dann kann man dabei die Augen schließen und braucht nicht durch die antrainierte Brille aus verkrampften und vorgekauten Meinungen ins Buch zu schauen.

  • Liebe Frau Wiedemann, ich habe das Gefühl Sie haben aus den Augen verloren, was für ein Signal die Terroristen mit den Anschlägen von Paris und Kopenhagen tatsächlich setzen wollten: Es geht darum alle (!) einzuschüchtern, die sich in Europa (!) kritisch mit dem Islam auseinandersetzen und / oder die (vermeintlich) eine Verbindung zum Staat Israel haben!

  • Danke. Ein guter Artikel bzw. Kommentar. Ob das auch Auswirkungen auf die "Moderation" der taz hat?

    • @antares56:

      Sie meinen z.B. Auspeitschungen wegen Unterwerfungsrethorik?

  • Wo ist der angekündigten Kommentar?

     

    Ich las nur eine wirre Mischung aus Befindlichkeiten und latenten Zwang Gewaltdelikte von selbstautorisierten Religionsfaschisten zu relativieren! Kann es das gewesen sein?

     

    Was veranlasst denn dazu Methoden imperialistischer Machtpolitik die sich schon länger nicht mehr auf religiös verdummte Anhänger stützt, mit dem gewaltätigen Kampf verwirrter Frömmler um Deutungshoheit gleichzusetzten?

     

    Das groteske Ausufern von Rechtlosigkeit im Großen, in staatlichen Strukturen soll nun irgendwie als Rechtfertigungsgrund dienen Jounalisten zu erschießen?

     

    Warum setzt sich den praktisch niemand mit Guantanamo, dem "Kampf gegen den Terrorismus" versuchsweise sachlich auseinander?

     

    Der beklagte Glaubwürdigkeitsverlust der Medien ist in der komplexen Entwicklung einfach selbstverschuldet. Irgendwann fällt auch dem intelektuell wehrloseren Leser auf, das Inhalte zugunsten von politischen Wunschvorstellungen verschwinden....

     

    Und wo bekommt man den "hochprozentigen Fusel der Freiheit"? Oder muss man sich den selbst brennen?