Schlaf und Erholung: Geiz zahlt sich nicht aus
Die meisten Erwachsenen kommen mit sieben bis acht Stunden Schlaf pro Nacht aus. Dennoch gönnen wir uns meist nicht mal das.
Und tatsächlich: Die Anlässe, dem Schlaf die eine oder andere halbe Stunde wegzunehmen, haben im letzten Jahrhundert – besonders in den letzten 20 Jahren – zugenommen: Die zunehmende Vernetzung unserer Lebenswelt sorgt für Kommunikations- und Konsummöglichkeiten rund um die Uhr, auch Freizeitoptionen und Dienstleistungen, von Supermärkten bis zu Telefonhotlines, sind allzeit verfügbar.
In der Folge vollziehen wir unseren Schlaf heute mechanisiert wie noch nie. Abends fahren wir, analog zur Funktionsweise eines Computers, herunter, um fünf bis acht Stunden später zu rebooten. In dieses Zeitfenster hat sich unser Schlaf bitteschön einzufügen. Er ist von einem Naturzwang zu einem Geschenk geworden, das man sich selbst macht. Oder mit dem man geizt.
Die Wissenschaft widmet sich derweil der Frage, wie wir unser Schlafbedürfnis weiter reduzieren können: 2009 etwa wurde eine Genvariante identifiziert, die dafür sorgt, dass manche Menschen nach sechs Stunden richtig ausgeschlafen sind: Mäuse, denen dieses DEC2 genannte Eiweiß eingepflanzt wurde, waren jeden Tag anderthalb Stunden länger aktiv. Und an Militärinstitutionen in aller Welt wird zu der Frage geforscht, wie Soldaten zumindest temporär von der Schlafforderung ihres Körpers befreit werden können. Dass derartige Erkenntnisse auch in zivilen Lebenswelten ankommen, ist nur eine Frage der Zeit.
Tägliche Eindrücke werden sortiert
Stephanie Grimm ist Verfasserin des Sachbuchs „Schlaft doch, wie ihr wollt“, das im Pantheon Verlag erschienen ist.
Die Gründe dafür, dass wir nicht genug Schlaf bekommen, unterscheiden sich in Lebenswelten und -phasen. Gesellschaftsdurchdringend ist jedoch das Resultat: Wir schlafen immer weniger. Mehr als die Hälfte aller Deutschen – so eine Zahl, über die man in der Diskussion öfter stolpert – sogar deutlich zu wenig. Im Rest der Welt sieht es nicht besser aus. Der Schlafbedarf ist zwar individuell verschieden und verändert sich im Laufe des Lebens. Pi mal Daumen lässt sich sagen: Die meisten Erwachsenen sind mit sieben bis acht Stunden gut beraten, es gibt aber auch Menschen, die regelmäßig ihre neun Stunden brauchen.
Hinsichtlich der Langzeitfolgen dieser Entwicklung befindet sich die Menschheit in einer Art Großversuch mit ungewissem Ausgang. Forschungsergebnisse legen einen Zusammenhang zwischen Schlafmangel und Stoffwechselerkrankungen und anderen Zivilisationsleiden nahe. Ein großes Thema in der Gesundheitspolitik ist der Schlaf trotzdem noch nicht.
Da wir über unsere Arbeitszeit nur begrenzt selbst bestimmen, hätte mehr Raum für den Schlaf weniger Freizeit zur Folge – was viele zweifeln lässt, ob das eine gute Idee ist. Doch es sind nicht nur die Zwänge der Arbeitswelt, die an unsere Auszeiten knabbern.
Wir selbst glauben gern, beim Schlafen Lebenszeit zu verschwenden, denn was wir im nächtlichen Daseinsdrittel erleben, entzieht sich unserem Bewusstsein – von gelegentlichen Erinnerungen an Träume abgesehen. Das ist insofern paradox, da sich unser Bewusstsein überhaupt erst entwickeln kann, weil im Schlaf all die Eindrücke, die täglich auf uns einprasseln, so sortiert werden, dass wir etwas mit ihnen anfangen können. Im Schlaf trennt unser Gehirn die Spreu vom Weizen.
Theoretisch wissen die meisten Menschen, dass sie ausreichende Ruhephasen brauchen, um sich am Leben zu erfreuen. Dennoch versuchen wir, möglichst viel in unseren Tagen unterzubringen, und bedienen uns dabei Technologien, von denen wir glauben, dass sie uns Lebenszeit schenken.
Das hat wohl auch damit zu tun, dass der Schlafvermeidung ein gewisser Glamour anhängt: Durch sie kann man unter Beweis stellen, dass man für eine Sache brennt – besonders in der Arbeitswelt, wo der Glaube immer noch verbreitet ist, dass der „frühe Vogel den Wurm fängt“ – obwohl wir das agrarische Zeitalter lange hinter uns gelassen haben. Von sogenannten Leistungsträgern – auf Chefetagen, in der Finanzwirtschaft und im Politikbetrieb – wird erwartet, sich jeden Tag aufs Neue über ihr Schlafbedürfnis hinwegzusetzen.
Margaret Thatcher zum Beispiel behauptete einst, nur vier Stunden zu brauchen, und fand: „sleep is for wimps“ (Schlaf ist für Weicheier). Bill Clinton dagegen hatte zumindest so viel Realitätssinn, dass er nach seiner Präsidentschaft fehlenden Schlaf für die größten Fehler seiner Laufbahn verantwortlich machte.
Auch im Kulturbetrieb und der Populärkultur gilt Schlafverzicht oft als Beleg, dass man leidenschaftlich bei der Sache ist. Pop- und Filmstars bekennen sich gern mit mehr als nur ein bisschen Koketterie zu nächtlicher Rastlosigkeit und ihrem geringen Schlafbedürfnis. Augenringe gelten eben nicht nur unter Bankern als Beleg dafür, dass man für seine Sache brennt.
Luxus, der nichts kostet
Und tatsächlich würden viele bemerkenswerte Bücher, Musik- und Kunstwerke wohl gar nicht existieren, wenn alle Menschen ein gesundes Verhältnis zu ihrem Schlaf hätten. Rainer Werner Fassbinder prägte einst das Diktum vom Schlaf, den er nachholen kann, wenn er tot ist. Und der Elektronikkünstler Aphex Twin fand, dass man mit zwei Stunden pro Nacht zurechtkommt: „Man gewöhnt sich im Laufe von drei Wochen daran. Ich habe schon als Kind für mich entschieden, dass Schlaf Lebensverschwendung ist“, erzählte er dem Online-Magazin The Quietus.
Dass unser Schlafbedürfnis gemischte Gefühle auslöst, liegt wohl – zu einem gewissen Grad unabhängig vom aktuellen Zeitgeist – in der menschlichen Natur begründet. Vielleicht lassen wir uns deshalb in der Sache allzu bereitwillig Unsinn einreden. Aktuell ist das die Idee, dass unser Schlaf optimierungsbedürftig ist. Obwohl er doch prima seinen Job macht, wenn man ihn nur lässt.
Schlafen ist eigentlich ein Luxus, der nichts kostet. Oder zumindest nichts kosten muss. Doch in den letzten Jahren hat die Welt des Marketings das Thema entdeckt und will uns diese uns angeborene, selbstverständliche Ressource zurückverkaufen.
Neuerdings setzt die Schlafindustrie nicht nur darauf, dass sich mit schlechtem Schlaf Geld verdienen lässt – wovon die Pharma- und Ratgeberindustrie seit Langem profitiert. Sie versucht zudem, bei problemlos Schlafenden Unsicherheit zu schüren, Luft nach oben ist schließlich immer. Wer garantiert mir schon, dass ich bisher den maximalen Nutzen aus meinen Nächten gezogen habe? Menschen, die sich von ihrem Ruhebedürfnis vielleicht schon entfremdet haben, wird versprochen, dass sie ihn mit Apps oder smarten Armbanduhren besser verstehen und für sich „nutzen“ können.
Privates Vergnügen
Über den Schlaf wird viel behauptet, was sich schwer bestätigen oder widerlegen lässt. Er ist eine geduldige Projektionsfläche. Die Gleichsetzung von ausreichendem Schlaf und Faulheit in der Arbeitswelt ist für unseren Umgang mit dieser Ressource jedoch so wenig hilfreich wie der Alarmismus angesichts einer aus dem Takt geratenen Welt, bei dem unser Schlafmangel zum Ansatzpunkt für Überforderungsdiskurse wird. Oder, wie beim New Yorker Kunsttheoretiker Jonathan Crary, der mit “24/7 – Schlaflos im Spätkapitalismus“ eine vielbeachtete Polemik veröffentlicht hat, als Beleg für die Verkommenheit des alle Lebensbereiche durchdringenden Neoliberalismus. Die Debatte über Schlaf ist zu einem Aufhänger für Kulturpessimismus geworden.
Vermutlich tun wir aber gut daran, unseren Schlaf nicht als Metapher zu überstrapazieren. Besser wir entdecken unser persönliches Schlafbedürfnis wieder – und machen uns daran, es im Rahmen unserer aktuellen Lebensumstände zu realisieren. Man gewöhnt sich nämlich viel zu leicht an Müdigkeit und überhört ihre Zeichen in der Kakofonie des Alltags.
Schlaf als ganz privates Vergnügen lässt sich jede Nacht aufs Neue entdecken. Wenn man die Augen schließt, entzieht man sich für ein paar Stunden allen Anforderungen. Im Bett verbrachte Zeit ist Freizeit im wahrsten Sinne des Wortes.
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