Endspurt im Wahlkampf: Schizophrendemokraten

■ Johannes Rau hat keine Chance, ist aber entschlossen, sie zu nutzen / Von Matthias Bröckers

„Kandidat ist für mich kein Job, - Kanzler will ich werden.“ Raus entzündete Stimmbänder oszillieren zwischen Willy Brandt und Louis Armstrong. Seine Rolle als Wahlkämpfer, zwischen dem Prediger in der sozialkalten Wüste und Achternbuschs „Atlantikschwimmer“: Du hast keine Chance, aber nutze sie. 35 prognostiziert und wenn man Johannes Rau für mehr soziale Gerechtigkeit plädieren hört, wünscht man ihm gerne satte zehn Prozent mehr - doch selbst das würde nichts nützen: „Wer Rau will, muß Rau wählen, auf dem Umweg über die Grünen bin ich nicht zu kriegen.“ Dieser Umweg ist der einzige Satz, in dem der potentielle Koalitionspartner auf der SPD–Kundgebung in Koblenz Erwähnung findet. Wie der Kandidat reden auch die lokalen Partei–Cracks munter gegen Kohl, Dregger, Geißler, Strauß, SDI, AKW, Sozialabbau und Bafög–Kürzung, als ob am Sonntag ein Kopf an Kopf– Rennen zwischen Hohl und Lau entschieden würde. Das Soziale, vielleicht sogar Sozialistische, im Sinn, aber vor den Realitäten den Kopf im Sand - Schizophrendemokraten. „Wahlkampf“, so Rau, „ist der Wettbewerb der richtigen Entwürfe“. Wie man über das Reißbrett, den Modellbau, zur Realisierung, sprich Regierung, kommen will, darüber fällt kein Wort. „Wir wollen die Koalition mit den Gewerkschaften, die Koalition der kleinen Leute...“, und kein kleiner Mann flüstert dem Kandidaten, daß damit noch lange kein Staat zu machen ist. So kann man die markigen Forderungen, Umweltsünder hart zu packen und die „Pressestelle“ Umweltministerium durch Staatsanwälte zu ersetzen, die sich um die Brunnenvergifter kümmern, kaum anders empfinden als die Verlautbarungen und Ankündigungen eines Herrn Wallmann - heiße Luft, die dazu noch ziemlich übel riecht. Denn hat nicht auch die SPD 40 Jahre lang an der Industrie–Gesellschaft gekurbelt, gekurbelt, gekurbelt, Wachstum, Wachstum, Wachstum, Abgas, Müll, Gift produziert? Und jetzt plötzlich sollen die, die man jahrzehntelang angemacht hat, hart angepackt (d.h. an die Wand gestellt, eingesperrt, rausgeschmissen) werden? Umweltschweine - sind das nur die Konzernbosse oder nicht auch die Millionen Facharbeiter–Ferkel? Aufrüster - sind das nur die MTU– und Kraus–Maffay–Direktoren (und Ex–Kanzler Schmidtler) oder nicht auch das Heer der Leopard– Schrauber und Tornado– Schweißer? Bevor wieder nach irgendeinem Staatsanwalt gerufen wird, ist erst einmal eine Generalamnestie - für alle Kriegs– und Umweltsünden der Vergangenheit - fällig und dann vielleicht kann aus der Vision des Johannes Rau - „zur Nr. 1 in der Umwelttechnologie aufzusteigen und die zu exportieren, statt U–Booten und Panzern“ - etwas werden. Aber nur mit Hilfe der grünen Kraft - ohne sie steht schon jetzt fest, wer am Sonntagabend der einsamste Mensch sein wird: Johannes Rau.