Schiedsrichterinnen am Mikrofon: Geht’s raus und pfeift’s
Bei dieser WM müssen Schiedsrichterinnen Entscheidungen via Videobeweis über das Stadionmikrofon erklären. Ein Unsinn! Der Nutzen tendiert gegen null.
Vor knapp 120 Jahren schuf die Fifa den Fußball nach ihrem Bilde. Doch relativ spät, weit hundert Jahre später, stellten deren männlichen Schöpfer fest, dass der Fußball noch nicht vollkommen war, und sie erfanden den Videobeweis. Perfekt war der Fußball jedoch immer noch nicht. Das Gemurre nach jedem Spiel war nicht minder groß als vor der Erschaffung des Videobeweises. So gab die Fifa im Jahre 2023 den Schiedsrichterinnen und Schiedsrichtern eine Stimme. Von nun an sollten sie dem Volk in den Stadien und an den TV-Bildschirmen verkünden, welche Ergebnisse die Studien der Bilder des Videobeweises erbracht hatten.
Zuvor sollten die Unparteiischen immer möglichst unscheinbar sein, dass nach einem Spiel keiner ein schlechtes Zeugnis über sie ablegte. Doch am 20. Juli beim Eröffnungsspiel der Weltmeisterschaft zwischen Neuseeland und Norwegen sprach die japanische Schiedsrichterin die ersten Worte ins Stadionmikrofon: „After on-field review the decision is: penalty!“
Die Frage ist, was soll der Mist? Es ginge um eine bessere Transparenz und Verständlichkeit der Entscheidungen, erklärte Fifa-Schiedsrichterchef Pierluigi Collina vor der WM.
Doch wozu braucht es die Stimme der Unparteiischen, wenn diese kommunizierten Entscheidungen auch für die TV-Kommentatoren sichtbar auf der Anzeigetafel im Stadion angezeigt werden? Und wenn es um mehr Verständlichkeit geht, warum nur für diejenigen, die des Englischen mächtig sind und dabei auch noch den Spezialwortschatz des Schiedsrichterwesens drauf haben? Auf der Videowand könnten hingegen Erklärungen in den Sprachen der beteiligten Teams übermittelt werden.
Schiedsrichter als Entertainer?
Und müsste die Fifa konsequenterweise nicht auch die unverständlichen Entscheidungen der Referees erklärbar machen, die nicht vom Videobeweis überprüft werden? So gesehen wäre es am besten, die Schiedsrichter kommentieren über Lautsprechanlage gleich ihr ganzes Spiel.
Warum rückt die Fifa nun ohne Not die Performance ihrer wichtigsten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor dem Mikrofon ins Zentrum der Aufmerksamkeit? Der südkoreanischen Schiedsrichterin Hyeonjeong Oh war es am Mittwoch bei der Partie zwischen Sambia und Spanien (0:5) sichtbar unangenehm, als sie in der 86. Minute schon zum zweiten Mal in Auckland ans Mikrofon zitiert wurde. Erneut musste sie erklären, dass das Schiedsrichterinnenteam auf dem Feld fälschlicherweise auf Abseits entschieden hatte und der Treffer von Spanien doch zählte.
Erst untergräbt die Fifa durch den Videobeweis die Autorität der Unparteiischen und lässt diese nun noch antanzen, um allen zu erklären, was sie falsch oder eventuell doch mal richtig gesehen haben.
Vielleicht möchte die Fifa auf dem Spielfeld der Weltstars ein wenig an der Rollenbesetzung rütteln. An den eigenen Angestellten im schwarzen Trikot soll niemand mehr vorbeisehen können. Wäre ja gelacht, wenn sich mit der Zeit nicht auch ein paar Entertainer hervortun, die das Publikum mit ihrer Präsenz und starken Stimme verzücken, die sich als gewandte Conférenciers des Fußballspektakels hervortun. Fehleinschätzungen machen sie mit einem smarten Augenzwinkern vergessen. Über Pannen im Videokeller helfen sie mit spontanem Witz.
Diejenigen, die gut pfeifen, aber vor dem Mikrofon das Stottern anfangen oder denen die Stimme bricht, müssen sich nicht grämen. Es können schließlich nicht alle bei einer Weltmeisterschaft berücksichtigt werden. In den unteren Ligen gibt es weiter großen Schiedsrichterbedarf.
Die Idee der Fifa, ihre Mitarbeiterinnen bei dieser WM ganz groß rauszubringen, hat jedoch einen Haken. Bei dem Stadionlärm sind deren Durchsagen kaum zu verstehen. Und Durchsagen wie „Ruhe bitte, die Schiedsrichterin spricht“ wären vermutlich nicht sonderlich wirksam. Am Mittwoch jedenfalls bekannte Claudia Neumann, die ZDF-Reporterin vor Ort, sie habe kein Wort der Unparteiischen verstanden. Das Problem dürfte im Ultra-Lärm beim Männerfußball ein noch größeres werden. Die Fifa sollte sich an die weisen Worte von Franz Beckenbauer halten. „Geht’s raus und pfeift’s“ Jedenfalls so etwas Ähnliches hat er mal gesagt. Und mehr braucht es auch wirklich nicht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Pistorius lässt Scholz den Vortritt
Der beschädigte Kandidat
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Haftbefehl gegen Netanjahu
Begründeter Verdacht für Kriegsverbrechen
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin