Scheitern in Santiago de Compostela: Auf den Ruinen des Unbewussten
Peter Eisenmans gigantische "Ciudad de la Cultura" sollte die Pilgerstadt Santiago de Compostela ins 21. Jahrhundert führen. Jetzt wurde der Weiterbau gestoppt.
SANTIAGO DE COMPOSTELA taz | Bis vor einigen Jahren galt Santiago de Compostela, die Stadt des heiligen Jakob und endloser Pilgerströme, nicht gerade als Hort der Moderne. So sollte der portugiesische Architekt Alvaro Siza, als er in der galicischen Hauptstadt das Centro Gallego de Arte Contemporáneo errichtete, den Museumsneubau weitab von der historischen Ringstraße, der denkmalgeschützten Altstadt und dem Kloster Santo Domingo de Bonaval aufrichten, damit die Touristen nicht von einem unerwartet avantgardistischen Bauwerk verschreckt würden.
Doch mittlerweile hat sich Santiago an sein Museum gewöhnt und Siza durfte sogar den angrenzenden Klostergarten umgestalten. Offenbar dämmerte es den Stadtpolitikern, dass das immer gleiche Touristenprogramm von Kathedralen-, Kirchen- und Klosterbesichtigung durch zeitgenössische Bauten noch attraktiver gemacht werden könnte.
Kurz vor der Jahrtausendwende ertönte dann ein Donnerschlag, als Santiago plötzlich ins Scheinwerferlicht der internationalen Medien versetzt wurde. Nachdem Frank O. Gehry in der schmucklosen Industriemetropole Bilbao das Guggenheim-Museum wie ein schimmerndes Gletschermassiv aus dem Flusstal emporragen ließ, spürte man in Santiago Handlungsbedarf. Das Projekt einer "Ciudad de la Cultura", einer "Kulturstadt Galicien", sollte die gesamte Kulturszene Spaniens elektrisieren.
Entwürfe für ein Ensemble
Zum begrenzten Wettbewerb wurden Stars wie der Holländer Rem Koolhaas, der Amerikaner Steven Holl, der Wahlberliner Daniel Libeskind und der Franzose Jean Nouvel geladen. Sie lieferten Entwürfe für ein Ensemble mit Archiv, Bibliothek, Oper, Galicischem Museum und Internationalem Kunstzentrum.
Abseits der Altstadt, auf dem Monte Gaias, sollte es errichtet werden. Schließlich ist der Amerikaner Peter Eisenman, der damals als Trendsetter der internationalen Architektur-Avantgarde und als Kopf des Dekonstruktivismus gefeiert wurde, zum Wettbewerbssieger gekürt worden.
Der New Yorker Architekt faszinierte die Jury, weil er die gesamte Oberfläche des Hügels nutzen und die einzelnen Gebäudeteile in die Erde eingraben wollte. Ein Gebäudekomplex, der unter die Erdoberfläche versenkt wird, eine Architektur, die sich dem Verlauf der natürlichen Landschaft anpasst - das wurde als Aufbruchssignal für die mittelalterliche Kathedralenstadt verstanden.
Überlagerung räumlicher und zeitlicher Schichten
Eisenmans verwegener Entwurf ist an Jacques Derrida, Gilles Deleuze und Sigmund Freud geschult. Der Architekt, der im Paris der achtziger Jahre zusammen mit dem Philosophen Derrida an Bernard Tschumis "La Villette" beteiligt war, dachte an eine Überlagerung räumlicher und zeitlicher Schichten, die er mit dem Aufbau des Unbewussten verglich.
Der computergenerierte Grundriss der Kulturstadt sollte wie ein Palimpsest lesbar sein, wobei Eisenman als "Fundament" den Grundriss von Santiagos verwinkelter Altstadt wählte, auf den er die "Ciudad de la Cultura" in Gestalt der geriffelten Jakobsmuschel projizierte.
Dieses Schichtungsmodell, von den Juroren als geniale Idee gefeiert, blieb allerdings für Laien kaum nachvollziehbar. Wer diese theoretischen Tiefenbohrungen nicht leistete, wird Santiagos neuen Kulturstandort lediglich wahrnehmen als steinerne Landschaft mit unregelmäßig verlaufenden Gebäudeformationen, die von Wegen durchschnitten werden.
Staub der Architekturgeschichte
Man könnte ebenso an wogende Gebilde mit Wellenkamm und Tälern denken, an das Auf und Ab von Hügeln und Wegen. Klar erkennbare Gebäudekanten und Straßen sucht man in der Kulturstadt vergebens. Dieses Konzept, das noch vor einigen Jahren als avantgardistisch galt, ist heute schon vom Staub der Architekturgeschichte überzogen.
Vergessen sind die Lobeshymnen über Eisenmans vermeintliches Meisterwerk, ebenso Kurt W. Forster Hoffnung, der Glanz der "Ciudad de la Cultura" werde bald unter spanischem Himmel erstrahlen. Anders der Berliner Architekt Wilfried Wang, der 1999 die undankbare Rolle des Rufers in der Wüste spielte. An seine Kritik denkt man heute in Santiago schmerzhaft zurück, weil plötzlich jeder merkt, wie sehr sie sich bewahrheitet hat.
Wang beanstandete ein maßstabsloses und überteuertes Projekt, dessen "Raumaufteilung ins 19. Jahrhundert verweist". Er bemängelte auch, was heute die Spatzen von Santiagos Dächern pfeifen: Das gigantische Projekt käme vornehmlich dem einstigen Franco-Minister und damaligen Präsidenten der galicischen Regierung Manuel Fraga Iribarne zugute, der sich durch das Nationalmonument verewigen wolle.
Verschendungssucht der Regierung Galiciens
Genau so ist es gekommen. Die "Ciudad de la Galicia", die eine Baufläche von 15 Hektar für gerade einmal 95.000 Einwohnern umfasst, macht die Verschwendungs- und Prunksucht der einstigen konservativen Regierung Galiciens und des kürzlich gestorbenen Fraga Iribarne greifbar. Es ist das Schicksal dieses Megaprojekts, dass es einst mit viel Vorschusslorbeeren startete und heute nur noch durch die Brille der Finanzkontrolleure beurteilt wird. Die Euphorie ist verflogen, die drakonischen Gesetze des Sparzwangs, wie allerorten in Spanien, haben Einzug gehalten.
Nachdem die konservative Regierung Asturiens das "Centro Oscar Niemeyer" in Avilés geschlossen hatte, zog die neue galicische Regierung unter Alberto Núñez Feijóo nach: Kürzlich erklärte sie das Projekt wegen der Kosten, die sich gegenüber der anfänglichen Berechnung auf 400 Millionen verdreifacht haben, zur Bauruine und stoppte den Weiterbau. Die riesige Oper, mit einer Fläche von 55.000 Quadratmetern, ist ebenso noch Baustelle wie das Internationale Kunstzentrum, das sich drohend über Santiago erhebt.
Das Museo de Galicia wurde zwar Ende 2011 eröffnet, aber der Besucher wandelt hier durch gigantische, leer stehende Räume. Das Museum, mit fast 21.000 Quadratmetern Grundfläche, taugt nur schlecht für Ausstellungen, da die Räume durch die wogende Dachformation viel zu uneinheitlich wirken. Grotesk wirkt auch die riesige, säulengestützte Biblioteca de Galicia: Sie ist größer als die Berliner Staatsbibliothek, obwohl sie lediglich das Schrifttum des kleinen Galicien mit seinen 2,8 Millionen Bewohnern versammelt.
Endlos betonisierte Mittelmeerküste
Anders als Scharouns Bibliothek wird hier jeder Eindruck von Offenheit sofort durch die massiven Säulen zunichte gemacht. Dass man Bibliotheken und Ausstellungssäle auch benutzerfreundlicher errichten kann, haben in Madrid und Santa Cruz de Tenerife das Schweizer Team Herzog & de Meuron bewiesen, mit konstruktiver Raffinesse und kreativem Eigensinn. Die Basler Architekten arbeiteten mit dem Künstler und Botaniker Patrick Blanc zusammen, der aus steinernem Grund tropische Pflanzen erwachsen lässt.
Das fehlt in Santiagos Kulturstadt. Die aus einheimischem Quarz errichtete "Ciudad de la Cultura" erinnert so manchen Spanier an die endlos betonierte Mittelmeerküste und lässt vergessen, dass Eisenman ursprünglich die Dachlandschaft begrünen wollte.
An den kalten Wintertagen trifft man in der Steinwüste der "Ciudad de la Cultura" nur hin und wieder auf einen neugierigen Besucher. Doch das hält die Verantwortlichen nicht davon ab, in dem viel zu eng geschnittenen Foyer des Archivs eine umfangreiche Werkschau über den New Yorker Großmeister zu präsentieren.
Im Zentrum der Ausstellung erscheint Peter Eisenman, wie immer mit Fliege am Revers, auf einer überdimensionalen Leinwand. Er erzählt von den Wohltaten seiner Architektur für Santiago de Compostela, für Galicien und für Spanien. Die Stadt der mittelalterlichen Kathedrale habe endlich eine Architektur fürs 21. Jahrhundert erhalten. Der Optimismus des Peter Eisenman stirbt zuletzt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
BGH-Urteil gegen Querdenken-Richter
Richter hat sein Amt für Maskenverbot missbraucht
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen