Schanghaier Journalistin begeht Suizid: Tod im Lockdown
Die Journalistin Tong Weijing schrieb Staatspropaganda über den Lockdown, unter dem sie selbst litt. Ihr Suizid wurde nun Opfer der Zensur.
Die Chinesin arbeitete als Journalistin bei einer Schanghaier Staatszeitung. Damit war sie Teil eines Systems, das vor allem auf der Verbreitung von Lügen basiert: Chinas offizielle Medien stehen schließlich unter Kontrolle der Kommunistischen Partei, und sie dürfen allermeist nur über die Gesellschaft berichten, wie sie laut Ansicht der Regierung sein sollte – nicht aber, wie sie wirklich ist.
Doch Tong Weijing hielt sich aus der großen Politik raus. Sie schrieb vor allem im Kulturressort, wo sie Filmrezensionen und essayistische Texte publizierte. Ihre Leser schätzten ihre stilistisch geschliffenen Artikel, die sich oft wie Gedichte lasen.
Doch der 1. April 2022 stellte das Leben sämtlicher 26 Millionen Einwohner Schanghais auf den Kopf, auch das von Tong Weijing. Die Regierung schloss damals die Menschen in ihre Wohnungen ein, wo sie fortan in Ungewissheit und Angst lebten: Von einem Tag auf den anderen verloren die Leute die Kontrolle über ihren Alltag, selbst bei der Nahrungsmittelversorgung war man abhängig von den staatlichen Essensrationen.
Holen Sie sich Unterstützung, wenn Sie selbst oder Menschen in Ihrem Bekanntenkreis Suizidgedanken entwickeln. Ihnen stehen zahlreiche Hilfsangebote zu Verfügung.
Die Telefonseelsorge bietet rund um die Uhr und kostenfreie – und auf Wunsch anonyme – Beratung an: 0800-111 0 111 oder 0800-111 0 222 oder 116 123. Unter www.telefonseelsorge.de können Sie außerdem mit Seelsorger*innen chatten.
Ausnahmezustand macht Weijing zu schaffen
Zudem wusste niemand, wie lange dieser Ausnahmezustand anhalten würde. Und über allem schwebte die Furcht, sich mit dem Coronavirus zu infizieren – denn das bedeutet, von den Seuchenschutzarbeitern in Quarantänelager mit elendigen Hygienezuständen abtransportiert zu werden.
Tong Weijing machte die Krise ganz besonders zu schaffen, laut Kollegen hatte sie schon länger mit ihrer psychischen Gesundheit zu kämpfen. Doch man kann sich nur ausmalen, wie es sich für sie angefühlt haben muss, in jener Lage Teil des Propaganda-Apparats zu sein: Die Journalistin musste „positive“ Artikel über einen Lockdown schreiben, der in Wahrheit immer unmenschlicher wurde.
Tongs Depressionen sind in jenen Tagen laut ihrer Mutter immer schlimmer geworden. Doch während des radikalen Lockdowns, während dem selbst Asthmapatienten auf offener Straße verstarben, da sie wegen eines fehlenden PCR-Tests nicht ins Krankenhaus gelassen wurden, war an psychiatrische Hilfe kaum zu denken. Am 4. Mai sprang Tong Weijing aus ihrem Fenster im 9. Stock. Die Ambulanz, die ihre Mutter rief, kam viel zu spät.
Doch Tong Weijings Geschichte ist mit ihrem Tod nicht zu Ende. Ihr Suizid hätte Anlass zur Reflexion geben und eine gesellschaftliche Debatte auslösen können. Doch stattdessen wurde er von den Staatsmedien verschwiegen. Nicht einmal Tongs ehemaliger Arbeitgeber schrieb eine kurze Meldung über den tragischen Todesfall.
Trauer um Weijing in den sozialen Medien
Wahrscheinlich haben die Zensoren eine Informationssperre verhängt: Tong Weijings Causa passt nicht in das Bild eines heroischen Viruskampfs, das die Zentralregierung in Peking der Bevölkerung eintrichtern möchte.
Nur auf den sozialen Medien trauern ein paar Nutzer um Tong Weijing. Und dort beklagen sie auch die Zustände einer Gesellschaft, die immer weniger bereit ist, sich mit ihren Schattenseiten auseinanderzusetzen: „Wann immer sich in der Vergangenheit eine Katastrophe ereignete, sahen wir, wie die Medien in den Kampf stürmten und zur Vorhut wurden, um Probleme aufzudecken“, schreibt ein User auf der Onlineplattform Weibo: „Aber jetzt haben wir gesehen, wie sich die Medien wirklich verhalten“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Angriffe auf Neonazis in Budapest
Ungarn liefert weiteres Mitglied um Lina E. aus
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands